Sagt man "es" oder "sie" für sein Haar, wenn man es kämmt? Was ist denn das, dieses kleine Insekt mit einer weißen Kugel auf dem Rücken, das vor mir vorbei läuft? Was um Gottes Willen sind "Barchborsten"? Winnie stellt sich tausend Fragen. Sie ist über fünfzig, steckt bis zur Taille im Erdboden fest und doch stellt sie sich all diese kindisch-naiven Fragen jeden Tag aufs Neue. Die Antworten hat Willie, der Mann an ihrer Seite - oder besser: hinter oder unter ihr. Meist schweigsam, reagiert er nur selten auf Winnies Redeschwall und wenn er es tut, ist dies allein Grund genug für sie, in die reinste Verzückung zu fallen: "Er wird heute mit mir sprechen. Es wird ein glücklicher Tag werden." Dem ist auch so, weil "kaum ein Tag vergeht ohne Heranwachsen des Wissens".
Dutzende Winnies hatte man schon auch auf hiesigen Bühnen, sehen können; Samuel Becketts 1961 in New York uraufgeführtes Stück Glückliche Tage ist ein Stück Theatergeschichte, das dennoch kaum gealtert, zeitlos erscheint. Miriam Goldschmidts Winnie, wie wir sie am vergangenen Wochenende in Peter Brooks Inszenierung als Gastspiel beim Festival de préouverture des Théâtre national du Luxembourg sehen konnten, hatte jene Intensität, jene schlichte und vielschichtige Natürlichkeit die die Figur auf einmal in ihrer ganzen Absurdität, in ihrer verzweifelten Lage ganz konkret erscheinen ließ. "Große Kunst ist präzise, und sehr große Kunst ist noch präziser", schrieb Peter Brook im Vorwort zu seiner ersten deutschsprachigen Inszenierung, die im März in Basel Premiere feierte. Brook hat an der "subtilen und unendlich komplexen Einfachheit" des Textes gearbeitet, und plötzlich scheint die Situation, in der Winnie sich befindet, fast schon ganz normal.
Im ersten Akt steckt sie bis zur Taille, im zweiten gar bis zum Hals im Boden. Bei Peter Brook sitzt sie in einer Art Hügel, Abdou Ouologuem hat daraus einen großen Rock aus ockerfarbenen Säcken gemacht, und man kommt nicht umhin, an dieses unwahrscheinliche Kleid der Grace Jones in Slave to the Rhythm zu denken. Somit ist es, als krieche Willie, der verschwiegene, Winnie immer wieder unter den Rock, um Schatten vor der gleißenden Sonne zu suchen. Sie definieren sich einer durch den anderen: er braucht sie als Schattenspenderin und Lebensgefährtin in dieser endlosen Einsamkeit, sie braucht ihn als Zuhörer, "nur zu wissen dass du mich theoretisch hören kannst, ist alles, was ich brauche".
Das Erstaunlichste an Peter Brooks Lektüre des Beckett-Stoffes ist, dass einem die Situation der Figuren nicht mehr fatal und hoffnungslos vorkommt. Ganz im Gegenteil: die beiden Figuren altern zusammen, sind zwar zusammen gefangen, sind sich ihres körperlichen Verfalls bewusst und finden beim besten Willen keinen Sinn in diesem Überlebenskampf - "Es gibt keine Verbesserung, keine Verschlimmerung, keine Veränderung", stellt Winnie fest - jedoch klammern wir uns mit ihr an jeden noch so kleinen Freudenmoment, jedes auch noch so belanglose "Ding", das sie aus ihrem großen Sack hervorkramt, um uns detailgetreu seine Geschichte zu erzählen.
Natürlich ist das nicht nur Peter Brooks Verdienst, sondern auch und vor allem das Verdienst der wunderbaren Miriam Goldschmidt. Es ist, als finde sie, die sonst so körperhaft spielte, alle Ressourcen - alles Leiden, alle Verzweiflung, alle Hoffnung, alle Wut, alles Verlangen und alle Enttäuschung - der Winnie in sich selbst. Während zwei Stunden konnte man gespannt ihrer Gratwanderung folgen, die sie mit Stimme, Mimik und mit ihrem Blick beging. An ihrer Seite ist Wolfgang Kroke genau der Willie, den man sich wünscht: stolz, etwas störrisch, etwas steif und hilflos und doch jener Halt, den Winnie braucht. Ein unvergesslicher Theaterabend, der leider nur dreimal stattfand.
Peter Brook wird, nach diesem ersten Besuch in Luxemburg, im Oktober wieder eine Produktion, dann ins Grand Théâtre de la Ville de Luxembourg schicken, und zwar seine Inszenierung von Can Thembas Le Costume, die er für das Pariser Théâtre des Bouffes du Nord realisierte.