Dass die ADR sich für eine bestimmte Ausrichtung des Katholizismus einsetze und sich an theologischen Referenzen orientiere, verneint der ADR-Abgeordnete Fernand Kartheiser – man sei keine konfessionelle Partei und spreche sich lediglich für die Religionsfreiheit aus. „Wie sich das Bistum unter Kardinal Hollerich entwickelt, das geht uns nichts an.“ Die Arbeit von Papst Franziskus wolle er auch nicht kommentieren. „Ech si réimesch-kathoulesch, mee op ech an eng Kierch ginn an a wéi eng geet keen eppes un“, antwortet er dem Land, auf die Nachfrage, ob er ein engagierter Christ sei.
Religionsbezogene Spannungen kochen gelegentlich in der ADR auf. Letzte Woche berichtete RTL über mögliche Verbindungen zwischen dem ADR und Civitas. Eine Gruppierung die sowohl parteipolitisch sowie praktizierend-religiös aufgestellt ist und aufgrund von antisemitischen Verschwörungserzählungen in Frankreich verboten werden soll. Im Januar hielt der französischen Mediziner und Impfgegner Christian Perronne eine Konferenz auf Anfrage der Vizepräsidentin von ADR-International und Chemikerin Anne-Marie Yim. Er wurde dabei von Alain Escada begleitet, dem Präsidenten der rechtsextremen Partei Civitas, der laut RTL ebenfalls von Anne-Marie Yim eingeladen wurde. Nach der Berichterstattung über die Konferenz letzte Woche ist Anne-Marie Yim nun aus der ADR ausgetreten. Generalvikar Leo Wagener erwähnte, seit Ende April habe sich die katholische Kirche näher mit Civitas befasst und sich von der Gruppierung abgegrenzt. Er habe auch Fernand Kartheiser vor der Partei gewarnt, als er ihm bei einem Rundtischgespräch im Juli begegnete.
Das Wort fasste letzte Woche zusammen, dass es bereits 2012 zu einem Parteiaustritt wegen religionsbezogenen Auseinandersetzungen kam. Damals tauchten Mitglieder von Pro Europe Christiana vor der Chamber auf, die mit weißen Kindersärgen gegen den Schwangerschaftsabbruch protestierten. Ihr Sitz befindet sich in Brüssel; mit hiesigen Katholiken hatte die Demo allerdings nichts zu tun. Fernand Kartheiser bestritt, formelle Verbindungen zu Pro Europa Christiana zu pflegen, begrüßte jedoch den Präsidenten von Pro Europa Christiana, Paul Herzog von Oldenburg und zeigte sich von dem Protest „freudig überrascht“. Der ADR-Abgeordnete Jacques Yves Henckes fand diese Solidaritätsbekundung befremdlich und legte seine Parteimitgliedschaft nieder.
In ihrem Parteiprogramm spricht sich die ADR für den Religionsunterricht aus – und zugleich für die Trennung von Kirche und Staat. Außerdem sollten alle Kirchen und Kapellen unter Denkmalschutz gestellt werden. „D‘Kierchegebaier, Kierchen a Kapellen, esou ewéi hiert Mobiliar hunn nieft hirem reliéise Charakter e Wäert als kulturelle Patrimoine. Dowéinst däerf a soll d‘Allgemengheet weiderhi fir hiren Ënnerhalt opkommen“. Um so auch die „christlichen Wurzeln unserer Zivilisation in Ehre zu halten“ und einem „religiösen Analphabetismus“ müsse unbedingt entgegengewirkt werden. Im Gemeindewahlprogramm stand, „traditionelle christliche Feste“ müssten „respektiert“ werden – die ADR denkt da an die Oktave, d’Klibberen und das Te Deum. Der Katholizismus dient als Identitätsmarker – und wird zugleich auf diesen reduziert.
In dem Buch Mir gi Lëtzebuerg net op, wählen Tom Weidig und Fred Keup weniger zaghafte Worte gegenüber der katholischen Kirche. Von Erzbischof Jean-Claude Hollerich distanzieren sie sich: Er sei „der falsche Mann zum falschen Zeitpunkt“, der ohne Erfahrung auf dem „Terrain in luxemburgischen Gemeinden“ handele, sich „vom nationalen Narrativ“ abwende, und sich mit „Weltproblemen wie Armut, Migration, Diskrimination und Klimawandel“ befasse. Sie besinnen sich retrotopisch auf Früher: Sonntags traf man „sich morgens zur Messe, dann ging’s zum Staminet (Stammtisch), dann zum Sonntagsessen und später zur Abendmesse, also Vesper, oder zum Fußball“. Die beiden Autoren erwähnen, selber nicht in einer Kirche engagiert zu sein, sich aber gegen die medialen Verzerrungen über die Kirche wenden zu wollen.
Vor den Wahlen 2018 meinte Fernand Kartheiser gegenüber dem Quotidien, die „ADR ist das, was die CSV vor etwa 20 Jahren war“. Heute zeichne sich die ADR durch konservative Werte aus. „Wir verteidigen die christlichen Prinzipien, ohne das C zu zeigen, während die CSV dies nicht mehr tut. Ich denke dabei an das Recht auf Leben oder auch an die Familienpolitik. Diese Entwicklungen sind der Grund für ein schlechtes Gewissen und Groll seitens der CSV“, führte er seine Analyse aus. Und erinnert daran, dass Sylvie Mischel, Vorsitzende der ADR-Frauensektion, nach 29 Jahren in der CSV aufgrund von Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Abtreibung zur ADR wechselte.
Aber die ADR ist nicht mit der CSV vergleichbar. Die CSV hatte vor allem ein robustes Netz an Verbänden, die Stammwähler/innen aufzog, wie katholische Studentenkongregationen, der katholische Akademiker-Verein Aluc, katholische Arbeitervereine (ab 1906), die Gewerkschaft LCGB (1921 gegründet), die Caritas, katholische Pfadfindervereine und das Luxemburger Wort (bis 2020 mehrheitlich im Besitz des Bistums). Dieses ehemals vergleichsweise homogene katholische Milieu hat sich in den letzten beiden Dekaden stark verwässert. Mit der Ankunft von Jean-Lou Siweck 2013 als Chefredakteur im Luxemburger Wort, säkularisierte sich ein Organ, indem sich das katholische Milieu zusammengebündelt sah. Auch die Asbl Les journées sociales du Luxembourg die regelmäßig Treffen zwischen dem Bistum, der Caritas, dem LCGB und dem Luxemburger Wort organisierte, bringt die katholisch geprägten Antennen nicht mehr zusammen.
Darüber hinaus haben sich die religionsbezogenen Konflikte unter der blau-rot-grünen Regierung und deren Trennung von Kirche und Staat aufgelöst – die CSV schärft ihr Profil nicht mehr über das C. Ein Höhepunkt dieser Indifferenz gegenüber der Kirche war ein Beitrag des CSV-Spitzenkandidaten Christoph Hansen im November 2022, der sich im Wort für das Recht auf Abtreibung aussprach. Die interne Weiterbildung zur katholischen Soziallehre, die unter Laurent Zeimet (Generalsekretär der CSV von 2012 bis 2019) organisiert wurde, zerbröselte nach der Wahlniederlage 2018. Nun geht die neue Generation affirmativ ideologiefrei an Politik heran und sucht „pragmatisch“ nach Problemlösungen, wie Elisabeth Margue ihre Politik zusammenfasst. Im aktuellen Wahlprogramm wird nahezu kein Bezug auf die Kirche genommen. Die CSV spricht sich lediglich für Kirchen als „kulturellen Anziehungspunkt“ neben Schlössern, Naturparks und Museen aus. Und bekräftigt an einer weiteren Stelle die Religionsfreiheit. Der beiden CSV-Politiker, die am deutlichsten sozialchristliche Züge einbringt, sind Marc Spautz, der in der christlichen Arbeiterbewegung sozialisiert wurde und der ehemalige Priester Paul Galles.
Als der Chefredakteur von RTL-Radio, Roy Grotz, den CSV-Spitzenkandidaten Luc Frieden Ende April fragte, ob er ein gläubiger Mensch sei, habe er „Luc Frieden kalt erwischt“, meint der grüne Abgeordnete Charles Margue. Nach drei Sekunden Stille antwortete Frieden schließlich „Heiansdo“. „An der langen Nachdenkpause erkennt man, dass Luc Frieden selber noch nicht über die Frage nachgedacht hat. Er ist ein Mann mit null religiösen Referenzen. Die CSV ist in der Opposition zu einer areligiösen, konservativen, wirtschaftsliberalen Partei zusammengeschrumpft“, urteilt Margue. Enttäuscht sei er zudem von dem promovierten Theologen Paul Galles, der im Gemeinderat das Bettelverbot mitgetragen habe. Charles Margue bezeichnet sich als „Linkskatholiken“. Diese bildeten sich in den 1970-er-Jahren im Umfeld der Zeitschrift Forum und der Jeunesse étudiante chrétienne (Jec) heraus. In der Kommission „Justitia et Pax“, die Teil der katholischen Kirche ist, befasst er sich aus einem christlichen Blickwinkel mit den Themen soziale Gerechtigkeit, Frieden, Menschenrechte und nachhaltige Entwicklung. Von liberalen Katholiken vernehme er Zuspruch zu grüner Politik. Ob konservative und liberale Katholiken jeweils ein Wähler/innen-Pool mit Gewicht darstellen, ist jedoch zu bezweifeln.
Der Austausch zwischen Parteien und dem Bistum ist seit 2013 selten geworden. „Parteien können einen Termin anfragen, wenn sie offiziell ein bestimmtes Thema mit Kardinal Jean-Claude Hollerich oder Generalvikar Leo Wagener besprechen wollen, aber ich kann mich nicht erinnern, wann das letzte Treffen dieser Art stattfand“, meint Gérard Kieffer, Pressesprecher des Bistums. Eher komme es zu informellen Gesprächen zwischen Vertretern der Kirche und Parteien, wie im Juli zwischen Fernand Kartheiser und Leo Wagener. Daneben suchten die Kirchenoberhäupter das Gespräch mit den Parteien, unter anderem ging es dabei um das Recht auf Abtreibung. Generalvikar Leo Wagener sagt letzte Woche gegenüber RTL, das Recht auf Leben müsse über dem Recht auf Abtreibung stehen, wenngleich man anerkenne, dass Abtreibungen medizinisch indiziert sein könnten, wie er zwischen den Zeilen durchblicken ließ. „Den ADR ass, wat d‘Ofdreiwung betrëfft, ganz op eiser Linn.“ Die Grünen hingegen würden das Recht auf Abtreibung in die Verfassung schreiben wollen, somit gäbe es in dem Punkt keine Überschneidung. Eine Wahlempfehlung spreche die Kirche allerdings nicht aus.
Aber die Kirche hat sich seit 2013 gewandelt und wirklich nah ist man dem ADR nur in Bezug auf den Schwangerschaftsabbruch. Öfters bereits kritisierte Kardinal Jean-Claude Hollerich die Spaltungspolitik von Populisten. Sie spielten mit den Ängsten der Menschen, um sie in Aggressivität gegenüber anderen Menschen umzumünzen, urteilt der papstnahe Generalsekretär der Bischofssynode Hollerich. Papst Franziskus seinerseits schrieb mit Laudato si den Umwelt- und Klimaschutz als aktuellen Schwerpunkt der Kirche fest sowie subsidiär die Frage nach globaler Gerechtigkeit. Letzten Samstag sprach er sich für eine humane Migrationspolitik aus und verurteilte die Gleichgültigkeit angesichts im Mittelmeer ertrinkender Flüchtlinge. Vergangene Woche erläuterte Generalvikar Leo Wagener, dass die Kirche in Gasperich 180 Flüchtlinge betreue. Mit den Fragen Klimaschutz, Migration und soziale Gerechtigkeit befassen sich weder dieADR noch CSV umfassend.
Unter Jean-Claude Hollerich findet zudem ein historisch-kritischer Umgang mit religionsbezogenen Entwicklungen und der katholischen Sexualmoral statt, letztere sieht er vor allem durch den Zeitgeist des 19. Jahrhunderts informiert. Von der Einheit von Kirche und Staat wie sie im 19. Jahrhundert herrschte – davon träumen vor allem ultrakatholische Traditionalisten. Diese Strömungen sind nicht biblizistisch, sondern zuvorderst auf die Autorität von Priestern ausgerichtet (was die Gefahr von sexuellem und spirituellem Missbrauch erhöht). Ein zentraler Bezugspunkt bildet somit die römisch-katholische Tradition vor dem zweiten Vatikanischen Konzil und keineswegs die Urkirche und Bibel, wie es für evangelikale Fundamentalisten der Fall ist. Diese traditionalistischen Integristen opponieren jeglicher Form von Erotik außerhalb einer heterosexuellen katholischen Ehe, stilisieren Schamhaftigkeit zu einer zentralen Tugend, bezeichnen Juden als des Gottesmordes mitschuldig, überhaupt lehnen sie andere Religionsgemeinschaften ab (insofern gibt es ideologische Überschneidungen mit salafistischen Strömungen). Für seine progressive Herangehensweise wird Kardinal Jean-Claude Hollerich mittlerweile denn auch von Rechtskonservativen scharf kritisiert.
In Luxemburg gibt es keine institutionalisierte Ausbreitung von traditionalistischen Gruppierungen, anders als in Frankreich, wo sie sich mit eigenen Netzwerken und Medienorganen implantiert haben. Dem Vernehmen nach, trifft man jedoch frankophone Integristen auf Konferenzen. Es handelt sich um eine rechtskatholische französische Oberschicht (nicht selten mit adligem Hintergrund), die eher unauffällig auftritt, in Luxemburg jedoch an Gewicht gewonnen hat. Genaue Studien hat man keine. In Wirtschaftsfragen sind sie besonders liberal eingestellt – sie arbeiten für Banken, Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, Kanzleien und europäische Institutionen. Das stärkste Indiz für ihr Bestehen sind die 10,5 Prozent der hier lebenden Franzosen, die 2022 Éric Zemmour wählten (gegenüber 7,2 Prozent in Frankreich).
Civitas-Präsident Alain Escada, den das franco-kambodschanische Ex-ADR-Mitglied Anne-Marie Yim im Januar einlud, unterstützte den Wahlkampf von Eric Zemmour. Er begrüßte, dass Zemmour Marschall Pétain verteidige sowie den Feminismus und Multikulturalismus bekämpfe. In letzter Konsequenz gehe er ihm aber nicht weit genug, um aus Frankreich eine katholische Nation zu gestalten. Darüber hinaus ist Civitas in Belgien zusammen mit rechtskonservativen Muslimen und Verschwörungsideologen aktiv, um gegen den schulischen Sexualkundeunterricht zu demonstrieren, weil dieser angeblich einem pädophilen System zuarbeite. Die Haltung dieses Zusammenschlusses gegenüber dem Sexualkundeunterricht wabert bereits durch die hiesigen sozialen Medien. Civitas ist außerdem mit dem Netzwerk „Tradition, Familie, Eigentum“ (TFP) verbandelt, das für die „Verteidigung der christlichen Zivilisation“ steht und in mehreren europäischen Ländern gegen die gleichgeschlechtliche Ehe protestierte. Wie das Wort berichtete, verteilte die Organisation diesen Sommer ihr Manifest in luxemburgischen Kirchen. Leo Wagener erklärte auf RTL, dass das Bistum ein Schreiben an alle Pfarreien versandte, um sich von TPF und ihren reaktionären Ansichten zu distanzieren.
Während die ADR in diesem Wahlkampf durch ihre mangelnde Abgrenzung gegenüber Ultrakonservativen auffiel, haderte die CSV mit ihrem C. Mitte August lieferte Luc Frieden RTL die Headline „Den C steet net fir Relioun, den C steet fir ons Grondwäerter!“ Falls das Wahlresultat für die CSV nicht wie erhofft ausfällt, wird das C vielleicht wie erstmals 1970 vor einem möglichen Aus stehen. Damals wollte der Wahlbezirk-Zentrum die Bezeichnung „christlich“ aus dem Namen streichen. Als die Partie 1974 in der Opposition landete, entschied man sich für eine andere Strategie: Alleinstellungsmerkmal war nun das C, mit dem man sich von der linksliberalen Koalition abgrenzte. Im 21. Jahrhundert wird es allerdings wohl kaum zu einer Wiederbelebung des christlichen Gepäcks kommen. Eher wird eine junge Generation zur Aufgabe des C drängen – ist die Indifferenz gegenüber dem Christentum hoch und wird institutionalisierte Religion als altmodisch belächelt.
Im Nachbarland Belgien mäanderte sich der ehemalige Parti social-chrétien in die Bedeutungslosigkeit. 2002 ließ die Partei ihr C fallen und verschlechterte dennoch weiterhin ihre Resultate. Nach einem absoluten Tiefpunkt 2019 fand eine erneute Namensänderung statt – man heißt nun Les Engagés. In den Niederlanden und Spanien haben die ehemaligen C-Parteien einen ähnlichen Weg hingelegt. Namensänderungen werden nicht immer von einem guten Omen begleitet. Als die CSV 2002 ihr neues Grundsatzprogramm verabschiedete, beschwor Erna Hennicot-Schoepges: „Das C ist keine Frage der Mode oder eines Trends“ – es sei „das Herz“ der CSV. Aber die Erklärungsnot innerhalb der CSV angesichts ihres Parteinamen war in diesem Wahlkampf mit den Händen zu greifen.