Freuden des Zugverkehrs

Großer Bahnhof, konzertant

d'Lëtzebuerger Land vom 28.09.2012

Heute loben wir die Freuden des Zugverkehrs. Ja, die neue Stater Gare mit ihrer Glashalle sieht richtig gut aus. Hell und transparent, wie alles beim Luxemburger Staat. Ein echtes Symbol. Hinzu kommt eine bahnbrechende Nachricht. Die CFL-Herrschaften beschallen ihren gelifteten Bahnhof mit klassischer Musik! Da hüpft das Herz des Kunstliebhabers vor unbändiger Freude. Wunderbar!, dachten wir, hier sind feinsinnige Ästheten am Werk, Menschen mit profunder Kulturerfahrung, die den öffentlichen Transport sozusagen in eine Konzerthalle verwandeln möchten. Schluss mit dem monotonen Rattern der Züge auf den Schienen, zum Teufel mit den lustlos geleierten Lautsprecherdurchsagen, die man ohnehin nur versteht, wenn man sich drei Hörgeräte aufs Ohr packt. Jetzt dürfen wir Zugfreaks, CFL sei Dank, eintauchen in ein sanftes Bad aus lauter edlen Tönen. Wellness im Gleisbereich, ein toller Einfall!
Und nun das. Was für eine Ernüchterung! Zutiefst enttäuscht müssen wir zur Kenntnis nehmen: „Mit der klassischen Musik werden die Drogenabhängigen vom Eingang verjagt“, (Revue, 29.08.2012). Die neue Maßnahme hat also nichts mit Kunstgenuss zu tun, sondern mit purer Waffentechnik. Die Musik ist ein Folterwerkzeug. In den oberen CFL-Etagen sitzen offenbar Manager, die gerne Krieg führen gegen Randgruppen. Die Herren Mozart und Vivaldi wissen zwar nichts von ihrem Glück, sie werden kurzerhand eingespannt, um unliebsamen Bahngästen den Garaus zu machen.
Die Idee stammt, wie so manches Repressive, aus deutschen Landen. 1998 wurden erstmals die Hamburger Bahnhöfe mit dem Spülmittel klassische Musik gesäubert. Das Experiment war ein voller Erfolg. „Klassische Musik soll Obdachlose nerven“, beschloss jüngst die Berliner Verkehrsgesellschaft BVG. Die Herren Mozart und Vivaldi sind inzwischen Dauergäste auf allen Berliner Bahnsteigen. Alle nicht zugkonformen Bürger werden so konsequent aus dem Bahnhofsbereich hinaus gedudelt.
Da stellen wir uns natürlich ein paar Fragen. Dass Drogenabhängige nicht mit dem Zug reisen sollen, ist uns völlig neu. Wie kommt die Bahn auf diese Diagnose? Allein in Deutschland zirkulieren an jedem Wochenende zahllose Züge mit tausenden sturzbesoffener Fußballfans, also hochgradig Drogenabhängigen. Auch hierzulande wird ausdrücklich empfohlen, das Privatauto schön brav in der Garage zu lassen und auf den Zug umzusteigen, wenn auf Weinfesten und anderen Kulturveranstaltungen der massive Drogenkonsum droht. Die Bahn hat sich also in der Vergangenheit einen Namen gemacht als guter Samariter der Betrunkenen und Bekifften. Ja, man könnte sogar sagen, dass die staatlich bezuschussten Züge unter dem Strich eine Art kollektive Ambulanz sind, ein rollendes Sanatorium für Wohlstandsopfer und wenig tugendhafte Landsleute. Warum denn der plötzliche Gesinnungswandel? Wollen die CFL ihren wirtschaftlichen Niedergang herbei musizieren?
Was machen wir denn nun mit den heroischen Kapiteln der Bahngeschichte, als die CFL zum Beispiel ganze Pilgerscharen von Sportbegeisterten zur Fußball-EM nach Holland beförderten? Das steht doch mit goldenen Lettern in den Annalen: der ganze Sonderzug ein einziges Bierlager, praktisch eine Brauereifiliale, schon kurz vor Ulflingen leergesoffen. Und zwar ganz ohne klassische Musik in den Abteilen. Das waren noch Zeiten. Die Bahn als Therapieanstalt voll gnädiger Rauschmittel. Wie menschlich!
Vielleicht liegen wir ja völlig falsch. Es könnte sein, dass es sich hier um eine neue Spielart der Sozialpolitik handelt. Wie trenne ich in der Bevölkerung die Spreu vom Weizen? Mit dem Mozart-Vivaldi-Test, genau. Man muss das Volk nur gezielt mit klassischer Musik attackieren. Dann wird sich schon zeigen, wer widersteht und wer freiwillig das Weite sucht. Wie obskure Wissenschaftler im Dienst der Bahn herausgefunden haben wollen, vertragen Drogenabhängige im akuten Rauschzustand bestimmte Töne und Klänge nicht. Vor allem klassische Musik schmerzt sie so sehr,  dass sie nicht anders können, als die Flucht zu ergreifen. Hätte Herr Sarkozy schon über diese Erkenntnis verfügt, wäre sein „Kärcher“ sofort untauglich geworden. Es geht viel subtiler und kultivierter. Ein flächendeckender Angriff mit klassischer Musik tut genau den gleichen Dienst. Man kann also die problematischen Gesellschaftszonen auch höchst kunstvoll säubern. Mit sinfonischem Nachdruck, sozusagen.
Musikkanonen statt Wasserwerfer. Wie schön. Auf diese Weise lässt sich jede Demonstration, jeder Protestzug und jeder Aufmarsch unzufriedener Bürger ratzfatz auseinander sprengen. Gar nicht auszudenken, was passiert, wenn die musikalische Kampfbrigade in den Luxemburger Schulen aufkreuzt. Zwei, drei Takte Mozart, und schon ist jede „Aktion kleine Klassen“ obsolet. Die benebelten Schüler werden in Massen das Feld räumen. Das wäre vielleicht ein Rezept für die reformberauschte Unterrichtsministerin. Es könnte ja sein, dass auch die maßlos meckernden Lehrer nur eines sind: Drogenabhängige. Also – ganz im Sinne der Bahn – unerwünschte Passagiere.

Guy Rewenig
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