Wie spricht man über Verschwörungstheorien? Eine Kritik und eine Typologie

Verschwörungstheoretiker sind immer die andern

d'Lëtzebuerger Land du 14.01.2022

Eine Verschwörungstheorie der Verschwörungstheorie

Das Thema der Verschwörungstheorie ist von hoher sozialer und politischer Brisanz. Es ist geradezu ein ubiquitäres Thema, das nicht nur in den politischen Diskursen verhandelt wird, sondern auch in journalistischen Analysen. Besonders interessant sind Arbeiten, die gewissermaßen die Grenze zwischen akademischen und populären Analysen überschreiten.

Werfen wir einmal einen Blick in eine dieser Arbeiten: Es handelt sich um Katharina Nocuns und Pia Lambertys Buch Fake Facts: Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen, erschienen 2021 beim Quadriga Verlag. Dieses Buch ist beispielhaft für eine Publikation an der Grenze zwischen wissenschaftlichem Anspruch und nicht-akademischer Öffentlichkeit: Katharina Nocun ist Publizistin, Pia Lamberty ist Psychologin und – laut Klappentext – „Expertin im Bereich Verschwörungsideologien“. Der Untertitel „wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“ deutet eine wichtige These der beiden Autorinnen bereits an: Wir alle können an Verschwörungen glauben. So schreiben Nocun und Lamberty am Ende des Buchs: „Der Grund, warum wir uns mit ebendiesem Thema befassen, ist, dass der Glaube an Verschwörungserzählungen quer durch die Gesellschaft geht. Das alles ist bei Weitem kein Randphänomen und war es auch nie. Wir alle kennen vermutlich Menschen, die Impfempfehlungen insgeheim für eine Verschwörung der Pharmaindustrie halten oder nach dem dritten Bier anfangen, Verschwörungserzählungen zum Attentat auf das World Trade Center zum Besten zu geben.“

Wenn Verschwörungstheorien in der gesamten Gesellschaft anzutreffen sind, bedeutet das für die Autorinnen: Wir können uns alle die Frage stellen, ob und inwieweit wir nicht selbst Verschwörungsdenken anhängen. Das wird hier in erster Linie als eine psychologische Frage behandelt: „Wie ist es um Ihre persönliche Verschwörungsmentalität bestellt?“, heißt es gleich zu Anfang, und die Leser/innen können über einen Fragebogen einen kurzen psychologischen Test absolvieren, der den Grad ihrer Anhänglichkeit offenbart. Als „Verschwörungsmentalität“ wird hier „ein generelles Misstrauen gegenüber ‚denen da oben‘“ definiert. Das Modell ist dabei offenbar so zu verstehen, dass weder eine besonders hohe Verschwörungsmentalität noch eine besonders niedrige wünschenswert erscheinen könnten: Das eine führt zum Abdriften in abwegige Verschwörungstheorien, das andere zu naivem Glauben an die Autorität. Bleibt zu fragen, warum manche von uns eine so ausgeprägte Verschwörungsmentalität aufweisen: „Welche Faktoren sind entscheidend dafür, dass Menschen an Verschwörungserzählungen glauben?“

Diese Faktoren sind in der Perspektive Nocuns und Lambertys primär individual-psychologischer Natur. Hier werden verschiedene Ansätze präsentiert. Einer der „Hauptgründe, warum Menschen an Verschwörungserzählungen glauben“ bezieht sich auf das Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben: „Sie kompensieren so einen erlebten Kontrollverlust, beispielsweise, wenn sie den Job verlieren oder das Gefühl haben, politisch unsichere Zeiten zu erleben.“ Mit anderen Worten: der Glaube an Verschwörungstheorien kann primär durch zwei psychologische Mechanismen erklärt werden. Zum einen ein Mechanismus, der einen realen oder gefühlten Kontrollverlust ausgleicht: Die Annahme einer Verschwörung generiert dann ein „Gefühl der Kontrolle“, indem es dem glaubenden Subjekt ermöglicht, die Situation zu „durchschauen“ und die „eigentlichen“ Akteure hinter dem Kontrollverlust zu „demaskieren“.

Nocun und Lamberty wehren sich jedoch gegen die Interpretation, die Anhänger von Verschwörungstheorien seien „verrückt“. Die Gleichsetzung von Paranoia und Verschwörungstheorie weisen die Autorinnen zurück – aber eine Analogie, eine spezifische Ähnlichkeit behaupten sie dennoch: „Während paranoide Menschen glauben, dass praktisch jeder hinter ihnen her ist, denken Verschwörungsideologen, dass ein paar mächtige Menschen hinter fast jedem her sind.“ Der Glaube an Verschwörungstheorie ist so zwar nicht identisch mit Paranoia – aber doch erkennbar damit verwandt.

Die psychologische Theorie des Verschwörungsdenkens interpretiert dieses als das Ergebnis mentaler und intellektueller Defizite und Störungen. Es werden eine Vielzahl von kognitiven Fehlern und Störungen beschrieben, die in der Perspektive der Autorinnen Verschwörungsdenken hervorrufen. Im wesentlichen können jedoch die zahlreichen Symptome und Fehlleistungen auf drei Komplexe reduziert werden: 1. Verschwörungsdenken entsteht dadurch, dass Menschen nur diejenigen Informationen wahrnehmen und akzeptieren, die ihre Weltsicht bestätigen. Dieser Fehler wird in der Psychologie als confirmation bias („Bestätigungsfehler“) bezeichnet. Unschwer kann das klinische Symptom der Paranoia (Verfolgungswahn), das häufig mit Verschwörungstheorien assoziiert wird, als maximale Steigerung eines confirmation bias interpretiert werden: Verfolgungswahn bedeutet in diesem Sinn, nichts anderes als Anzeichen für die Bestätigung des Verschwörungsdenkens mehr wahrnehmen zu können. 2. Verschwörungstheorien bieten simplifizierende Erklärungen für komplexe Zusammenhänge. Sie versprechen dadurch „Orientierung und Halt“ in politisch oder sozial unübersichtlichen Situationen – und bieten zugleich ein einfach zu erreichendes Gefühl, die Welt besser zu „durchschauen“ als andere Menschen. 3. Verschwörungstheorien erreichen diese dramatische und verfälschende Wahrnehmung der Realität häufig dadurch, dass sie ein einfaches „Freund-Feind“-Schema errichten – wodurch alles Böse auf der Welt als Ergebnis des intentionalen Handelns einer bestimmten Personengruppe interpretiert werden kann, und Freunde nur noch diejenigen sein können, die den Kampf gegen diese Gruppe aufnehmen.

Als Folge dieser Wahrnehmungsverzerrungen erscheint der Glaube an Verschwörungstheorien als eine mentale Abweichung und Störung, der „wir alle“ potentiell jederzeit zum Opfer fallen können. „Wir alle tragen tief in uns die Veranlagung für Wahrnehmungsverzerrungen“, schreiben Nocun und Lamberty: „In bestimmten Konstellationen kann sich das darauf auswirken, dass wir Informationen falsch bewerten, Fake News gedankenlos als Wahrheit akzeptieren oder gar Verschwörungserzählungen auf den Leim gehen.“ Das ist essentiell die Version der Geschichte, die die beiden Autorinnen über Verschwörungstheorien erzählen: Der menschliche Verstand ist anfällig für eine ganze Reihe von Störungen und Fehler – und ist dadurch stets bedroht, der Irrationalität vollständig zu verfallen. Die Lektüre eines Buchs wie Fake Facts kann in dieser Konstellation sowohl die Möglichkeit zur Eigendiagnose anbieten – wie gefährdet ist mein eigener Verstand? – als auch das Versprechen, die ersten Anzeichen des Irrationalen im eigenen Umfeld rechtzeitig zu bemerken.

So wichtig und relevant die Arbeit von Nocun und Lamberty auch ist (im übrigen sind ihre Thesen natürlich in der öffentlichen Diskussion über Verschwörungstheorien recht weit verbreitet): Ich möchte dennoch einen grundsätzlichen Einwand formulieren. Bei näherer Betrachtung, so möchte ich behaupten, lassen sich alle wesentlichen Kriterien für mentale Fehler und Verschwörungsdenken, die Nocun und Lamberty erarbeiten, auch auf ihre eigene Analyse anwenden.

Erstens findet sich auch hier eine Art des confirmation bias, insofern die hier vorgeschlagene Erklärung für Verschwörungstheorien diese gewissermaßen zu einem allgegenwärtigen Phänomen macht. Der Tonfall der Analyse ist durchgehend alarmistisch: Die Verschwörungsdenker lauern überall, letztlich droht jeder und jedem einzelnen von uns jederzeit die Gefahr, an Verschwörungstheorien zu glauben, denn die dafür verantwortlichen kognitiven Fehlleistungen sind schlicht menschlich. Entsprechend erscheint die Irrationalität laut den Autorinnen allgegenwärtig. Vielfältig und heterogen ist die Bandbreite der Beispiele, die Nocun und Lamberty anführen: die historische Fälschung der Protokolle der Weisen von Zion, die Verschwörungen über die Anschläge auf das World Trade Center 2001, der Glaube an Vergiftung durch Chemtrails, die QAnon-Mythen, die Flat-Earth-Mythologie, die Klimawandelleugner oder diverse Mythen um die Entstehung des für die Pandemie der letzten beiden Jahre verantwortlichen Coronavirus. Es ergibt sich der Eindruck einer politischen Geisterbahn, bei der zu jedem Thema erschreckende Verzerrungen, Lügengebäude und auch blanker Wahnsinn hervorgebracht werden. Zweitens: Auch hier wird ein „Freund-Feind“-Schema etabliert: Es geht, in allen Variationen, stets um einen Kampf zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Demokraten und den Feinden der Demokratie. Dabei wird drittens eine simplifizierende Erklärung für komplexe Probleme gewonnen, indem letztendlich zahlreiche unterschiedliche Problemkomplexe – die Krise der Demokratie, insbesondere in den USA, der Rechtsextremismus in Deutschland, die Probleme der Corona-Politik – auf mentale Fehlleistungen zurückgeführt werden (wodurch strukturelle soziale Probleme systematisch aus dem Blick geraten). Die Analyse in Fake Facts formuliert, mit anderen Worten, eine Verschwörungstheorie der Verschwörungstheorien – die Arbeit fällt exakt in die mentalen Fallen, vor denen sie warnt.

Verschwörungstheorie und reale Verschwörungen

Die Analyse der Verschwörungstheorien bei Nocun und Lamberty leidet darunter, dass die Kategorie als passepartout-Begriff auf unterschiedlichste Phänomene angewandt wird. Aber wird das Phänomen in den kulturwissenschaftlichen Analysen differenzierter betrachtet? Auch hier zeigt sich eine Tendenz zur Generalisierung, die mit der Definition von „Verschwörungstheorie“ zusammenhängt. Die kulturwissenschaftlichen Reflexionen über Verschwörungstheorien basieren üblicherweise auf zwei Bestimmungen. Die erste dieser Bestimmungen ist: Verschwörungstheorien werden verstanden als Behauptungen darüber, dass es so etwas wie eine geheime Macht (zumeist eine Gruppierung von Menschen) gibt, welche hinter der Oberfläche des politischen Lebens agiert, und dass demzufolge die für alle sichtbare Realität nicht mehr als eine Illusion darstellt, die die sinistren Machenschaften und Intrigen vor unseren Blicken verbirgt. Insofern Verschwörungen per definitionem geheim und unsichtbar sind – eine Gruppe von Menschen innerhalb einer politischen Organisation bildet gewissermaßen eine Suborganisation mit Zielen und Plänen, die in der Regel der umgebenden Welt zuwiderlaufen –, sammelt der Verschwörungstheoretiker Indizien, um aus Elementen eines Rätsels die Komplexität eines Geheimnisses hinter der für alle offenbaren Realität herauszulesen.

Die zweite Bestimmung ist, dass diese „Theorie“ keine reale Grundlage hat: Die Welt der Verschwörungstheorien ist a priori eine der Fantasie, der Täuschung, der Illusion. Im Gegensatz zur „Realgeschichte der Verschwörung“ – d.h. den raren tatsächlichen Verschwörungszusammenhängen – gehörten Verschwörungstheorien „zum Bereich des Imaginären oder allenfalls des Konjekturalen“, heißt es. Das würde bedeuten, dass alles Sprechen über Verschwörungen auf bloßen Vermutungen, Illusionen oder Einbildungen beruht: Jede Verschwörungstheorie wird so von vornherein als Produkt einer halluzinierenden Phantasie vorverurteilt. Die kulturwissenschaftliche Analyse erklärt Verschwörungstheorien entsprechend regelmäßig durch die Kategorie der Paranoia, als könnte nur Verfolgungswahn Verschwörungen aushecken. Mitunter wird in der Forschungsliteratur gefordert, auf den Begriff „Verschwörungstheorie“ zu verzichten, um stattdessen von „Verschwörungsideologie“ oder „Verschwörungsmythos“ zu sprechen. Die Verschwörungstheorie wäre dann von vornherein ein Diskurs der Halbgebildeten und „Spinner“. Bleibt zu fragen, wie mit Sicherheit gesagt werden kann, dass Verschwörungstheorien a priori unzutreffend sind? Schließlich gehört es zur Natur der Verschwörung, dass diese im Verborgenen und Geheimen agiert und so von vornherein weder leicht zu beweisen noch zu widerlegen sein wird.

In der Forschungsliteratur über Verschwörungstheorien wird in der Regel argumentiert, dass Verschwörungstheorien trennscharf von realen Verschwörungen unterschieden werden können. So argumentiert Michael Butter in seinem Standardwerk über Verschwörungstheorien, dass „reale Verschwörungen (…) sich deutlich von denjenigen (unterscheiden), die Verschwörungstheoretiker entdeckt zu haben glauben.“ Butter nennt drei Kriterien, welche die Abgrenzung zwischen realen Verschwörungen und fantastischen Verschwörungstheorien sicher benennen sollen. Erstens: Der zeitliche Umfang des Komplotts – reale Verschwörungen seien stets „relativ kurzfristig durchgeführte Vorhaben mit einem konkreten Ziel“, während Verschwörungstheorien langfristige Komplotte mit überaus ambitionierten und oftmals vagen Zielen behaupteten. Zweitens: die Größe der Verschwörung – reale Verschwörungen werden von einer begrenzten Anzahl von Personen begangen, während Verschwörungstheorien zumeist sehr umfangreiche Komplotte mit einer Vielzahl involvierter Menschen voraussetzen. Zum Beispiel gibt es Theorien, denen zufolge die Anschläge des 11. September 2001 von der US-Regierung selbst in Auftrag gegeben worden sind, um einen Grund für den Einmarsch in Afghanistan und im Irak zu liefern: Aber dieser Plan würde eine Vielzahl involvierter Personen erfordern, von denen bis heute niemand das Geheimnis der Planung ausgesprochen hätte. Je mehr Eingeweihte es jedoch in einem Komplott gibt, desto wahrscheinlicher ist logischerweise die Aufdeckung desselben. Drittens: Verschwörungstheorien setzen ein falsches Menschen- und Geschichtsbild voraus. „Verschwörungstheorien basieren auf der Annahme, dass Menschen den Verlauf der Geschichte ihren Intentionen entsprechend lenken können, dass Geschichte also planbar ist.“ Mit anderen Worten: In der fantastischen Welt der Verschwörungstheorie können Pläne und Komplotte über Jahre hinaus kontinuierlich entwickelt werden, während die wirkliche Welt in hohem Maß von Zufälligkeiten und ungeplanten Ereignissen strukturiert ist. Während die „offiziellen“ Erklärungen von historischen Ereignissen oftmals ein hohes Maß an Zufälligkeit voraussetzen – das beste Beispiel ist vielleicht die „Einzeltäterthese“ zum Kennedy-Attentat –, insistiert die Verschwörungstheorie auf Nicht-Kontingenz: auf verborgenen (wenn nicht sogar versteckten) Zusammenhängen und geheimen Intentionen.

Aber ist die Grenzziehung zwischen Realität und Phantasie wirklich so einfach und eindeutig? Nehmen wir den VW-Abgasskandal als Beispiel. Im September 2015 wurde öffentlich, dass Volkswagen in seinen Dieselfahrzeugen bereits zu Beginn der 2000er Jahre eine geheime Technik installiert hatte, die es ermöglichte, die strengen US-Abgasnormen im Prüfstandmodus einzuhalten, im normalen Fahrbetrieb dagegen deutlich zu überschreiten. Der Volkswagen-Konzern hat die Dreistigkeit besessen, seine Dieselfahrzeuge als „Clean Diesel“ zu bewerben. Nach der Aufdeckung der Manipulationstechnik zögerte VW nicht, diese als Machenschaft weniger einzelner darzustellen, so dass der Konzern sich selbst als Opfer weniger Einzeltäter inszenieren konnte. Diese Perspektive wurde zunächst jedenfalls in der medialen Berichterstattung in Deutschland weitgehend übernommen. Erst im Laufe weiterer Ermittlungen und Enthüllungen wurde bekannt, dass wohl mindestens 30 Personen aus dem Management von Volkswagen von der geheimen und illegalen Technologie Kenntnis gehabt hatten. Ausgesprochen „kurzfristig“ war das Komplott des Volkswagen-Managements sicherlich nicht: die Täuschung über die geheime Technologie in den Dieselfahrzeugen wurde wohl über nahezu 10 Jahre hinweg verwendet. Das erste Kriterium für eine Verschwörungstheorie wäre daher erfüllt. Die Größe der unter sich verschwörten Gruppe ist mit wohl über 30 involvierten Personen recht erheblich: auch das zweite Kriterium wird erfüllt. Wenn man berücksichtigt, dass diese Personen über einen so langen Zeitraum intentional daran gearbeitet haben, die amerikanischen Abgasnormen zu umgehen, dann kann auch von Zufälligkeiten keine Rede sein – und auch das dritte Kriterium trifft somit zu. Mit anderen Worten: Es ließe sich durchaus unschwer eine reale Verschwörung finden, die alle Kriterien erfüllt, die in den Forschungstexten lediglich fiktionale Verschwörungstheorien auszeichnen. Die Grenzziehung zwischen realen Verschwörungen und fantastischen Theorien ist nicht so trivial, wie sie oftmals dargestellt wird.

Eine Typologie der Verschwörungstheorien

Differenzierung erscheint hier dringend nötig, damit „Verschwörungstheorie“ nicht als passepartout-Kategorie genutzt wird, welche die verschiedensten Mythen und Theorien in einen Topf wirft. Ich möchte eine Unterscheidung zwischen drei Formen von Verschwörungstheorien vorschlagen.

Die erste Kategorie könnte allgemein falsifizierte Verschwörung genannt werden. In diese Kategorien fallen etwa Wissenschaftsverschwörungen, die mehr oder weniger deutlich von dem literarischen Genre des Science Fiction inspiriert sind. Dazu zählen skurrile Ideengebäude wie die von der britischen Publizisten David Icke popularisierte Konstruktion, derzufolge die Welt von reptilienartigen Außerirdischen bedroht wird, die tückischerweise in der Lage sind, täuschend echte Menschengestalt anzunehmen („shapeshifting“) und sich in das politische Tagesgeschäft einzumischen. Dieses fantasievolle Gedankengebilde beinhaltet die Abstammung der Reptiloiden sowohl von anderen Planeten als auch aus anderen Dimensionen sowie den Plan dieser Wesen, die Weltherrschaft zu übernehmen und die Menschheit zu versklaven. Ein anderer Verschwörungsmythos aus dieser Kategorie ist die Flat-Earth-Spekulation – obgleich diese, für sich betrachtet, noch keine Verschwörungstheorie sein muss (sondern lediglich eine falsche naturwissenschaftliche Annahme): zu einer solchen wird sie erst ergänzt mit dem Narrativ, dass die etablierten Wissenschaftler unter anderem die Wahrheit über die Flachheit der Erde bewusst unterdrücken.

Diese Form der Verschwörungstheorie ist besonders im Bereich der Politik auffällig geworden – nicht zuletzt in Verbindung mit Fake News, mitunter strategisch lancierten Lügen, die zum Bestandteil von Verschwörungserzählungen werden können. Hierzu zählt die Pizzagate-Geschichte, die im Wahlkampf des Jahres 2016 in den USA kursierte: Angeblich würden führende Politiker der Demokraten im Keller einer Pizzeria in Washington einen Kinderpornoring betreiben. Bekanntlich wurde diese Geschichte von Anhängern der Verschwörungstheorie falsifiziert: am 4. Dezember 2016 drang ein bewaffneter Angreifer in die Pizzeria ein – um festzustellen, dass sie nicht einmal über einen Keller verfügte.

In einer bestimmten politischen Szene in den USA hat sich diese Art der Verschwörungstheorie inzwischen offenbar fest etabliert, beginnend mit der „Truther“-Bewegung, die die offiziellen Erklärungen für den 11. September 2001 anzweifelte; und nahtlos überging zur „Birther“-Bewegung, die anzweifelte, dass Barack Obama in den USA geboren wurde und somit rechtmäßig Präsident werden konnte. Ein prominenter Vertreter dieser Szene ist der Radiomoderator Alex Jones, der erst vor wenigen Wochen zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, weil er den Amoklauf an der Sandy-Hook-Grundschule im Jahr 2012 wiederholt öffentlich geleugnet und behauptet hat, dies sei eine inszenierte Lüge mit dem Ziel, die Waffengesetze in den USA zu verschärfen.

Die zweite Kategorie könnte als kombinatorische Verschwörungstheorie bezeichnet werden. Im Unterschied zu der ersten Kategorie sind diese Theorien elementar nicht falsifiziert – aus dem einfachen Grund, dass sie in der Regel so hochgradig spekulativ konstruiert sind, dass sie weder belegt noch widerlegt werden können. Das bekannteste Beispiel für diese Art der Verschwörungstheorie im 20. Jahrhundert bietet wohl das Attentat auf John F. Kennedy am 22. November 1963. Die offizielle Erklärung für die Tat, die im Warren-Report veröffentlicht wurde, beschuldigt Lee Harvey Oswald, als Einzeltäter für das Attentat verantwortlich zu sein. Aber es gibt keinen Mangel an konkurrierenden Theorien über das Attentat: kaum eine politische Gruppierung, die noch nicht dafür verantwortlich gemacht wurde. Der Schriftsteller Norman Mailer vergleicht die Bedeutung des Warren-Report mit dem Talmud im Judentum: „Für zwei Generationen von Amerikanern sind die sechsundzwanzig Bände der Warren-Kommission eine Art talmudischer Text geworden, der Kommentar und weitere Erläuterung heischt.“ Diese talmudische Qualität nehmen die Verschwörungserzählungen um die Ermordung Kennedys aus der Kraft der Kombinatorik, die immer neue Querverbindungen, Perspektiven und Interpretationen erlaubt. Beweise sind hier ebensowenig zu erwarten wie Widerlegungen: Es gibt nur Interpretationen und Theorien. Aus diesem Grund ist die kombinatorische Verschwörungstheorie individueller als die erste Kategorie: Jeder Versuch, eine definitive Verschwörungserzählung festzulegen, musste sich von vornherein dem gleichen Zweifel stellen wie die offizielle Darstellung des Falls.

Die dritte Kategorie kann als (nachträglich) verifizierbare Verschwörungstheorien bezeichnet werden. Hierbei handelt es sich somit um eine Kategorie von Verschwörungstheorien, die ausdrücklich der Grundannahme widersprechen, alle Verschwörungstheorien seien a priori falsch – insofern sie zumindest für die Mehrheit der Beobachterinnen ab einem bestimmten Zeitpunkt bestätigt worden sind.

Nichtsdestotrotz gibt es einige Beispiele für Verschwörungserzählungen, die als verifiziert gelten können, zumindest insofern eine große Mehrheit sie inzwischen als bewiesen betrachtet. Mehrere Bombenanschläge in Italien zwischen den 1960er und 1980er Jahren wurden zunächst Linksextremisten zur Last gelegt. Seit den 1990er Jahren jedoch wurde erkennbar, dass die Planung dieser Anschläge bei rechtsextremen Gruppierungen lag, die in Verbindung mit der geheimen paramilitärischen NATO-Einheit Gladio/Stay Behind – deren Existenz der Ministerpräsident Giulio Andreotti erst 1990 einräumte – sowie der Geheimloge Propaganda Due agierten. Es gibt zahlreiche Indizien dafür, dass der Anschlag auf das Münchner Oktoberfest im Jahr 1980 nicht das Werk des Einzeltäters Gundolf Köhler war (wie die behördlichen Ermittlungsergebnisse besagen), sondern ebenfalls auf Gladio-Gruppierungen zurückgeht. Was zu einem früheren Zeitpunkt wie ein paranoider Verschwörungsmythos klingen musste, wurde ab den 1990er Jahren die offizielle Version zur Erklärung der Bombenanschläge. Ein weiteres Beispiel ist die Einmischung Russlands in die US-Präsidentschaftswahlen im Jahr 2016: Nachdem das Wahlkampfteam Trumps bereits im Sommer 2016 in Kontakt mit der russischen Regierung aufgenommen hat, kam es im Herbst 2016 zu umfangreichen Interventionen, die auf die Initiative Russlands zurückgeführt werden können: Millionen von Posts auf social-Media-Plattformen wurden gestreut, um die Stimmung für Trump zu wenden – außerdem wurden offenbar Rechner der demokratischen Partei gehackt und das Material an Wikileaks übergeben. Dass die Wahl manipuliert war, hat die vorige Regierung in Amerika stets geleugnet, allerdings hat der sogenannte Mueller Report, der im Auftrag des Senats erstellt wurde, diese als bewiesen erachtet. Die frühere behördliche Wahrheit wurde in all diesen Fällen nun als verschleiernder Mythos entwertet, und die frühere Verschwörungstheorie als ‚real‘ anerkannt.

Ein letztes Beispiel, das in gewisser Weise als eine Mischung aus kombinatorischer und potentiell verifizierter (jedenfalls: potentiell verifizierbarer) Verschwörungserzählung darstellt: die Theorie, dass SARS-CoV-2 nicht, wie gemeinhin angenommen, einer spontanen Zoonose im Umfeld des „wet market“ im Zentrum von Wuhan entstammt, sondern als Ergebnis eines Unfalls aus einem Labor entkommen ist. Hintergrund für diese Annahme ist der Umstand, dass das Labor des Wuhan Centre for Disease Control and Prevention (WHCDC), welches unter anderem auch mit Coronaviren forscht, sich weniger als 300 Meter von dem Huanan-Fischmarkt befindet, auf dem im Dezember 2019 die ersten Covid-19-Fälle registriert worden sind. Das Labor ist übrigens erst am 2. Dezember 2019 dorthin umgezogen. Der Verdacht beruht somit primär auf einer räumlichen Nähe – in der Terminologie der Analyse von Verschwörungserzählungen handelt es sich demnach /folglich um eine „propinquity theory“: eine Theorie, die räumliche Nähe als nicht-zufällig interpretiert. Die These, dass das Virus einem „lab leak“ entspringt, wurde als Verdacht bereits früh formuliert – durch der republikanischen Senator Tom Cotton aus Arkansas formuliert, im Januar 2020. Die New York Times und die Washington Post bewerten diese Annahme umgehend als Verschwörungstheorien – zu eindeutig passte sie zu Trumps rassistischer Tendenz, das Virus konsequent als „china virus“ zu bezeichnen, um die Verantwortung für das Versagen der amerikanischen Gesundheitspolitik auf China zu schieben. Nichtsdestotrotz wurde der Verdacht weiterhin wiederholt formuliert. Inzwischen sagt selbst der WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus, die Laborhypothese bleibe „auf dem Tisch“. Laborunfälle sind in der Vergangenheit geschehen, es wäre nicht das erste Mal. Ferner sind Onlinerechercheure darauf gestoßen, dass es im Jahr 2012 mutmaßlich in der südchinesischen Provinz Yunnnan zu einem Ausbruch eines SARS-artigen Coronavirus gekommen sein soll, als mehrere Bergarbeiter einen Schacht von Fledermauskot reinigen wollten. Die Beziehung zwischen dem dabei gefundenen Coronavirus und SARS-CoV-2 ist unklar. Und genau das ist das Problem in der Frage nach der Entstehung der Coronapandemie: Vieles ist nach wie vor vollkommen unklar und wird es wahrscheinlich für immer bleiben, weil die chinesische Regierung jede wissenschaftliche Aufklärung verhindert hat – bzw. die eigenen Ergebnisse dieser Aufklärung, falls vorhanden, für sich behält. Verschwörungstheorien blühen eben genau dort, wo Wissen nicht verfügbar ist, und wo Staaten sich womöglich auch zu Recht dem Verdacht aussetzen, Dinge zu verheimlichen. In diesem Sinne möchte ich folgern, dass Verschwörungstheorien nicht nur Hirngespinste von Spinnern und Neonazis (das schließt sich nicht gegenseitig aus) sein müssen, sondern eben auch ein Instrument der Aufklärung.

Oliver Kohns ist Assistant Professor an der Université du Luxembourg. Er ist Literatur- und Kulturwissenschaftler

Oliver Kohns
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