Anmerkungen zum Städtebau in Luxemburg

In welcher Stadt wollen wir wohnen?

Ban de Gasperich
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 21.04.2017

Vor kurzem wurde eine nicht öffentliche, aber gut besuchte Podiumsdiskussion zum neuen Gesamtbebauungsplans der Stadt Luxemburg (PAG) organisiert, bei der unter anderem Bürgermeisterin Lydie Polfer, Minister François Bausch und ein Vertreter der Immobilienwirtschaft über die zukünftige Entwicklung der Hauptstadt diskutierten. Dabei fielen immer wieder die gleichen Begriffe, die seit einigen Jahren Teil des politischen Mainstreams geworden sind: Wachstum, Verdichtung, Durchmischung, bezahlbarer Wohnungsbau, Urbanität. Das Beharren auf diesen vermeintlich „guten“ Begriffen, ohne dass erklärt wird, was darunter genau zu verstehen ist und ohne dass dabei überzeugende entwicklungsstrukturelle Methoden dargelegt werden, wie diese vermeintlichen Werte zu erreichen seien, kaschiert nicht nur eine reale Auseinandersetzung damit, was ich unter Stadt verstehe, es generiert im Gegenteil letztendlich das entgegengesetzte Stadtmodell: jenes der pyramidalen Stadt mit einer goldenen Mitte für wenige und einer schwachen, sich in die Landschaft ausfransenden Peripherie für alle anderen.

Wachstum

Bald ein halbes Jahrhundert nach Dennis Meadows’ bahnbrechender Studie Die Grenzen des Wachstums und der kurz darauffolgenden ersten Ölkrise dominiert das Zauberwort der Moderne immer noch den politischen Diskurs der westlichen Welt, dabei gehen seitdem alle Wachstumskurven im Schnitt stets nach unten. Luxemburg ist durch seine besondere Geschichte und Größe freilich eine Ausnahme. Vieles was in den siebziger Jahren im Architekturdiskurs wie auch in alternativen Szenen als Reaktion auf diesen neuen sozioökonomischen Kontext entwickelt wurde – Stadtreparatur, behutsame Stadterneuerung, grünes Archipel (in dem einer der Autoren bereits 1977 vorausschauend von einer Stadtentwicklung in einem „Zero-Growth-Europe“ spricht) –, rückte mit dem Triumphzug des Neoliberalismus und der ihn begleitenden Postmoderne in den medialen Hintergrund und gelangt nun spätestens seit der letzten großen Bankenkrise und einer allgemeinen Skepsis gegenüber dieser Wachstums- und Privatisierungsideologie wieder ins öffentliche Blickfeld.

Ob Debatten über das bedingungslose Grundeinkommen oder wie kürzlich im Spiegel gefordert: die Einführung des Winterschlafs für alle; ob Konzepte wie Resilienz, Recycling, zirkulare Ökonomie oder verschiedene Formen der Partizipation, des Sharing, der Teilhabe – all dies ließe sich auf die Formel bringen, dass sich in unserer Gesellschaft durch alle Klassen und Schichten hindurch immer mehr Menschen danach sehnen, das rein quantitative Wachstumsparadigma durch eine qualitativere Ausrichtung zu ersetzen. Dennis Meadows nennt als illustrative Analogie gerne unsere Kinder, die man in den ersten fünfzehn, zwanzig Jahren gerne wachsen und danach lieber sich entwickeln sieht, durch das Erlernen von Fremdsprachen oder sozialer Intelligenz beispielsweise.

Gleichzeitig ist qualitatives Wachstum heute ein Standortfaktor geworden. Stichwort The Creative Class, was man auch immer von Richard Floridas Arbeit halten mag: Kreativarbeiter der neuen Ökonomien sind kaum mehr bereit, wie ihre Vorgänger der Industriegesellschaft in rurale oder suburbane Gebiete zu ziehen, da für sie die Vorzüge des Urbanen (Diversität, Toleranz, Kultur) entscheidend geworden sind, weshalb sich nun diese Ökonomien vermehrt in Großstädten niederlassen, da sie auf diese qualifizierten Arbeitnehmer angewiesen sind.

Durch die Konzentration dieses relativ neuen, immer mächtiger werdenden Kapitals wird das, was heute Gentrifizierung genannt wird – das Vertreiben von ökonomisch schwächeren Bevölkerungsschichten aus der Stadt heraus –, beschleunigt. Wie der Tourist, der auf der Suche nach Authentizität die selbige zerstört, nivelliert der Kosmopolit die Diversität der Stadt, nach der er sich sehnt. Eine Stadtentwicklung des qualitativen Wachstums muss es daher vermögen, den Zugang zu Stadt den verschiedenen Gruppierungen unserer Gesellschaft offen zu halten. Ich würde vor dem Hintergrund des derzeit auflebenden Populismus heute gar so weit gehen, zu behaupten, dass die Orientierung hin zu einem qualitativen Wachstum und daran gekoppelt der Zugang dazu für alle Bevölkerungsschichten substanziell für unser Zusammenleben und somit für unsere derzeit angegriffene Demokratie geworden ist. Auf der Ebene der Stadtentwicklung ist dies nur durch einen produktiven Dialog zwischen verschiedenen Feldern zu erreichen, die sich vorher ständig duelliert haben: zwischen Stadtpolitik und Teilhabe, Hochkultur und Subkultur, Stadt und Natur, Immobilien in privatem Eigentum und Boden als öffentlichem Gut.

In der oben angesprochenen Debatte lässt sich einmal mehr feststellen, dass die Immobilienindustrie nur in Kategorien des quantitativen Wachstums denkt: so viel wie möglich Quadratmeter Nutzfläche gewinnen, so hoch wie möglich bauen, so wenig wie mögliche Gemeinschafts- oder Sozialflächen bereitstellen, kurzum: möglichst hohe Geschossflächen- und Grundflächenzahlen, möglichst hohe Mieten oder Verkaufspreise, möglichst hohe Gewinne... Und es drängt sich demnach das Gebot auf, durch eine Revision des Baurechts, der Flächennutzungspläne und ähnlichem hier regulativ einzugreifen, allerdings im dialogischen Sinne, sodass eine Win-Win-Situation zwischen Kapital und öffentlichem Interesse entsteht. Wie das möglich ist, werde ich später anreißen.

Verdichtung

Verdichtung wird seit dem Aufkommen der Strategie der so genannten „Rekonstruktion der europäischen Stadt“ (übrigens von einem Luxemburger mitinitiiert), die sich seit den neunziger Jahren unter dem Begriff „Kompakte Stadt“ aufdrängt, als Heilmittel für unsere Städte und Gegenrezept gegen den vermeintlich „schlechten“ Sprawl – die Zersiedelung der Landschaft – begriffen. Die Grundidee dieses Ansatzes besteht darin, der Ausuferung des Suburbanen durch eine Verdichtung der Städte mit formal klassischen, vier- bis sechsgeschossigen Blockstrukturen entgegenzuwirken. Städtebau reduziert sich in diesem Leitbild auf das harmonische Zusammenspiel von Straßen, Blocks und einer Architektur, die sich in diese Blockstrukturen zu integrieren hat.

Dabei wird bewusst unterschlagen, dass es sich um eine bauliche Verdichtung handelt und nicht unbedingt um eine demografische. Mehr gebaute Nutzfläche heißt noch nicht, dass auch mehr Menschen und vor allem: mehr unterschiedliche Menschen auf engerem Raum zusammenwohnen und miteinander klarkommen müssen. Wenn man die großen Immobilienprojekte in Shanghai, London, Berlin und auch Luxemburg anschaut, dann sieht man – und das hat uns Saskia Sassen vor Augen geführt1 –, wie eine bauliche Verdichtung sogar zum Gegenteil dessen führen kann, was man unter Urbanität versteht: zu einer Ausdünnung der Stadt. So werden kleinteilige Strukturen durch große, unzugängliche Brocken ersetzt, die entweder tertiär oder als Wohnung von wenigen Menschen und teilweise gar als Kapitalanlage überhaupt nicht mehr genutzt werden.

Wollen wir jedoch die demografische Dichte erhöhen, so muss die Diskussion auch unbequeme Fragen erörtern, die mit dieser Dichte einhergehen: nämlich wie wir die Standards runtersetzen in Bezug auf Lärm oder auf Wohnfläche pro Einwohner. Anders ausgedrückt: Die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stets steigende Durchschnittswohnfläche eines europäischen Bürgers muss wieder abnehmen und gleichzeitig die Toleranz zu seinen Mitmenschen unterschiedlicher Herkunft, mit denen er auf engerem Raume es auszuhalten vermag, zunehmen. Und wenn es mittlerweile Konsens ist, dass nicht nur die demografische Dichte in den Städten zunehmen sollte, um die Wege zu verkürzen und die Städte lebendiger zu machen, sondern auch die Grünflächen und mit ihnen verbundene Freizeitaktivitäten, dann muss darüber gesprochen werden, wie dieser Widerspruch zu überwinden ist.

Hier sind auch wir Architekten gefordert, neue architektonische und städtebauliche Typologien zu entwickeln, die es ermöglichen, sowohl mehr Außenflächen als auch mehr Geschossflächen zu generieren, sprich eine hohe Geschossflächenzahl mit vielen Wohnungen bei einer geringeren Grundflächenzahl zu erzielen. Dadurch wird zwangsweise das Mantra der „Kompakten Stadt“ – klassische Blockstrukturen in einer höhenbegrenzten Traufhöhe, wie sie im Gesamtbebauungsplan mehrheitlich eingefroren werden sollen – in den Hintergrund geraten, und wir werden wieder vermehrt über Zeilen, Punkt und Scheibenhäuser nachdenken müssen.

Durchmischung und bezahlbarer Wohnungsbau

Die Vorstellung von der durchmischten Stadt dominiert spätestens seit den neunziger Jahren den Diskurs der Architekten und seit circa einem Jahrzehnt auch jenen der Politiker, selbst wenn dieses Schlagwort in letzter Zeit massiv von populistischen Tendenzen angegriffen wird.

Wenn ein Akteur eine Durchmischung fordert, dann tut er das vor allem, um sich gegen das funktionalistische Stadtmodell zu positionieren – gegen die Einteilung des Stadtterritoriums in Gebiete des Arbeitens, Wohnens und Erholens, die in der Nachkriegszeit politisch und stadtplanerisch gesteuert und durch die Automobilität zusammengehalten wurde. Dieses Modell der klassischen Moderne würde heute keinen Unterstützer mehr finden, schlägt sich aber immer noch in den Flächennutzungsplänen nieder und bestimmt die reale Beschaffenheit vieler europäischer Agglomerationen. Da es in der Stadt Luxemburg, wo die meisten Menschen arbeiten, viel zu wenig bezahlbaren Wohnraum für jene gibt, die nicht der Einkommensstruktur von Bankern und Ministerialbeamten entsprechen, wohnen mehr als doppelt so viele dieser hier arbeitenden Menschen in der erweiterten Peripherie, die eher im Süden des Landes oder über die Landesgrenzen hinaus liegt. Die Pendler aus Thionville, Perl oder Arlon, die täglich die regionalen Straßen überfluten, tun dies nicht, weil sie nicht auf den Komfort des Individualverkehrs verzichten wollten, sondern weil sie keine Möglichkeit haben, in der Nähe ihrer Arbeit und „der Stadt“ zu leben. Demnach ist das Dogma der autogerechten oder funktionsgetrennten Stadt zumindest hinsichtlich Wohnen und Arbeiten in Luxemburg noch real vorhanden.

Angesichts des Wohnungsmangels beabsichtigt die Stadtverwaltung nun Land aufzukaufen, was vom Prinzip her ein löblicher Ansatz ist, steuert er doch der Privatisierung des städtischen Bodens und somit einer Entmischung entgegen. Aber die entscheidende Frage ist, wie viel es ihr wirklich zu akquirieren gelingt und was die öffentliche Hand damit dann anstellt. Greift sie in die Programmierung und die Miet- oder Kaufpreise der zu entwickelnden Projekte ein? Wie viel Sozial- und Gemeinschaftsflächen werden eingefordert? Wie viele Baugruppen gefördert? Welcher Grad von Zugänglichkeit wird festgesetzt?

Selbst wenn die Politik dazu imstande wäre, die zukünftige Bevölkerung dieser zu entwickelnden Projekte maximal und breit zu durchmischen, so wäre es dennoch nur ein gutzuheißender Nischeneffekt gegenüber einer immer weiterschreitenden Homogenisierung der „Stadt“ durch eine vermögende Bevölkerungsschicht.

Mit Arno Brandlhuber zusammen haben wir „dialogische“ Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt, wie die Städte bis zum Maßstab des Hauses durchmischt werden können, ohne dabei den Besitz von Grund und Boden zu enteignen, wie es Baron Haussmann im Paris des 19. Jahrhunderts gemacht hat. Geben wir Bauherren oder Hausbesitzern die Möglichkeit, ein oder zwei Geschosse zusätzlich auf die bestehenden oder zu planenden Gebäude draufzusetzen, verbunden mit der Verpflichtung, ein oder zwei Stockwerke im gleichen Gebäude langfristig als Sozialfläche mit einer festgeschriebenen Miete zu vermieten, so würde der Investor einen höheren Gewinn erzielen, da die oberen Geschosse um ein vielfaches lukrativer als die unteren sind, und die Miete der Sozialflächen, auch wenn sie gering ist, trotzdem einstreichen. Gleichzeitig würde das Gebäude durchmischt. Man müsste nur das Baurecht ändern, Abstandsflächen, Traufhöhen, Geschossflächenzahlen und Grundflächenzahlen überdenken und den Mut aufbringen, Sozialflächen und Zugänglichkeiten (keine Einfriedungen beispielsweise) einzufordern.

Des Weiteren müssten die Flächennutzungspläne, die heute noch zu oft auf der beschriebenen Funktionstrennung basieren, neu geschrieben, Wohnen, Arbeiten, Produzieren, sich Erholen und alle möglichen Aktivitäten wieder zusammengebracht werden. Neben den angesprochen hybriden Typologien der Dichte müssten städtische Strukturen wieder so kleinteilig (aber eben nicht so stark höhenbegrenzt) angelegt werden, dass in den mit der Straße verzahnten Erdgeschosszonen Geschäfte entstehen können. Und die Gebäude müssten so strukturiert und dimensioniert werden, dass sie sowohl mit Wohnungen oder mit Büros, beziehungsweise mit Wohnungen und Büros bespielt werden könnten. In diesem Zusammenspiel von kleinteiligen und großdimensionierten, aber programmatisch hybriden Strukturen kann wieder so etwas wie Stadt entstehen: als Ort, an dem vermögende und finanziell schwächere, jüngere und ältere, lokale und von außerhalb stammende Bevölkerungsschichten verschiedener Konfessionen miteinander leben, arbeiten und womöglich kommunizieren und interagieren.

Urbanität

Der nebulöseste aller genannten Begriffe ist jener der Urbanität. Seit den achtziger Jahren wird er als meist konservativer Kampfbegriff gegen die Zersiedelung der Landschaft benutzt. Urbanität bezieht sich in diesem Fall auf eine romantische Vorstellung des städtischen Lebens im 19. und frühen 20. Jahrhunderts, dokumentiert durch historische Bilder und Fotografien, auf denen es nur so von Menschen in den Straßen und auf den Plätzen wimmelt. Diese romantische Vorstellung von Urbanität träumt von einer klaren Trennung zwischen öffentlichem Raum, in dem der Bürger sich an gewisse Verhaltensregeln hält, und privatem Raum, dessen Interieurs sich hinter (re)materialisierten Fassaden verbergen.

Der Moderne wird in dieser Sicht vorgeworfen, die Grenzen zwischen den beiden Sphären aufgelöst zu haben. Die Durchdringung von Privatheit und Öffentlichkeit wurde tatsächlich aber nicht nur durch transparente Fassaden angegangen, sondern insbesondere durch eine fortschreitende Technisierung und Mediatisierung, die das Öffentliche via Fernseher, Internet und Mobiltelefon in die Privatsphäre gebracht und das Private öffentlich gemacht hat. Die romantische Vorstellung von Urbanität blendet zudem aus, dass bis zum Aufkommen der klassischen Moderne die Wohnverhältnisse (außer für eine bourgeoise Minderheit) in solch einem Maße unmenschlich waren, dass es die Menschen aus ihren kleinen Stuben nach draußen trieb. Darüber hinaus gab es weder einen Individualverkehr noch ein ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz, weshalb die Menschen zu ihrer Arbeit meist zu Fuß gehen mussten.

Doch auch wenn dieser Begriff romantisch-verklärt besetzt ist, so meine ich nicht, dass wir ihn deshalb nicht mehr benutzen sollten. Im Gegenteil: Wir müssen heute imstande sein, Begriffe zurückzuerobern, sie wieder neu zu besetzen, und dürfen nicht ständig neue Begriffe ins Leben rufen, deren Summe den Diskurs völlig auseinanderfallen lässt. Urbanität sollte heute wieder ein integrativer Begriff sein: als Ausdruck der „offenen Stadt“, wie es beispielsweise Richard Sennett vorschwebt und wie ich ihn kurz angerissen habe. Sie sollte sich ferner gegen die Homogenisierung der kommerziellen Ebene der Stadt richten. Wir beobachten in den Städten – auch in Luxemburg – immer mehr ein Wegdrängen von kleinteiligen, lokalen Geschäften, Märkten und Restaurants durch immer dieselben Ketten. Die Altstadt von Luxemburg hat sich bereits in eine Edel-Shopping-Mall verwandelt. Es sollte an der Zeit sein, die Stadt wieder als differenzierten Ort des Wohnens, Arbeitens und Kaufens zurückzuerobern.

Florian Hertweck ist Architekt und Professor an der Universität Luxemburg, wo im Herbst der neue Masterstudiengang in Architektur startet.

Florian Hertweck
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