ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Parteikarten beim Amtsantritt

d'Lëtzebuerger Land vom 14.01.2022

Seit vergangener Woche ist eine neue Finanzministerin im Amt. Von Yuriko Backes ist kein öffentliches Wort über Steuern oder Staatsausgaben bekannt. Deshalb wird sie überschwänglich gelobt.

Eine Finanzministerin soll dafür sorgen, dass sich die Einnahmen und Ausgaben des Staates die Waage halten. Sie hat sich nach dem liberalen Dogma zu richten: Im Zweifelsfall die Ausgaben zu senken, was die Besitzlosen trifft. Statt die Steuern zu erhöhen, was die Besitzenden träfe. Seit 1984 fällt auch die „coordination des initiatives visant la promotion de la place financière“ in den Zuständigkeitsbereich der Finanzminister. Das macht die Anliegen der mächtigsten Lobby zum Staatsauftrag.

Die Premierminister Pierre Dupong, Pierre Werner, Jacques Santer und Jean-Claude Juncker wollten die Regierungsmacht nicht immer teilen. Dann waren sie auch Finanzminister. Die Thronprinzen der CSV mussten ihre Lehrjahre im Finanzministerium verbringen: Unter Pierre Frieden war Pierre Werner Finanzminister, bevor er Premierminister wurde. Unter Pierre Werner wurde Jacques Santer Finanzminister, bevor er Premierminister wurde. Unter Jacques Santer wurde Jean-Claude Juncker Finanzminister, bevor er Premierminister wurde. Unter Jean-Claude Juncker wurde Luc Frieden Finanzminister, bevor die CSV den Eisberg rammte.

Nach der Bankenkrise verschärfte die Europäische Union ihren Stabilitätspakt. 2014 machte ihn das Parlament mit 55 von 60 Stimmen zum Gesetz. Dieses stellt die Staatsfinanzen unter die Zwangsverwaltung der EU. Es macht das liberale Dogma zum Himmelsgebot: Kein Abgeordneter braucht sich mehr einem Wählerauftrag verpflichtet zu fühlen. Die parlamentarische Budgethoheit heißt nun Populismus. Auch die Europäische Zentralbank ist unabhängig von Gewählten. Sie muss dafür sorgen, einen Lohnanstieg für die erwerbstätigen und Geldwertverluste für die besitzenden Klassen zu verhindern.

Zur Rechtfertigung murmeln Experten alchimistische Formeln von mittelfristigen Haushaltszielen und der impliziten Staatsschuld. Nullzinsen und Corona-Seuche machen ihre Beschwörungen nicht einfacher. Ein Triple-A bescheinigt die größtmögliche Konformität der Staatsfinanzen zu den Wünschen der Banken, Versicherungen und Investitionsfonds.

Das Finanzministerium bleibt ein strategisches Ressort. Es entscheidet noch immer, wer Steuern zahlt und wer das Geld erhält. Bloß dass die Entscheidungen einen Umweg über Brüssel und durch die „Traitéen“ machen. Wo sie weißgewaschen werden, um ihre Herkunft zu vertuschen.

Werden Politiker Finanzminister, entsteht der ungewollte Eindruck von Handlungsspielraum. Etwa bei der sozialstaatlichen Umverteilung. Seit dem verschärften Stabilitätspakt erweisen sich Technokraten mit diplomatischer Erfahrung als die idealen Finanzminister. Pierre Gramegna und Yuriko Backes haben das liberale Dogma bei einer Unternehmerlobby oder der Europäischen Kommission verinnerlicht. Sie bieten nicht die politische Angriffsfläche eines vielleicht von der DP bevorzugten Managers von Ernst and Young oder KPMG.

Technokraten mit diplomatischer Erfahrung haben einen Sinn für die Staatsräson. Sie kaufen ihre Parteikarte beim Amtsantritt. Hätte Jean-Claude Juncker angerufen, wäre es die christlich-soziale gewesen. Die flexible Haltung erleichtert Meinungsumschwünge bei Austeritätsmaßnahmen, dem Informationsaustausch oder dem Staatsdefizit.

Dank ihrer diplomatischen Erfahrung wissen sie von Brest-Litowsk. Sie haben gelernt, in schier ausweglosen Situationen zu verhandeln. Beim Rückzugsgefecht der Steueroase geben sie keinen Zentimeter Territorium mehr auf, als nötig.

Dann kandidierte Pierre Gramegna bei den Wahlen. Die Eitelkeit drohte, aus dem Technokraten einen Politiker zu machen. Deshalb hörte er jetzt auf. Mit seiner Nachfolgerin gelang dem Premierminister wieder ein Copy-Paste.

Romain Hilgert
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