ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Die Zerstörung der Vernunft

d'Lëtzebuerger Land vom 17.12.2021

Der Kampf zwischen Aufklärung und Obskurantismus ist hierzulande fast drei Jahrhunderte alt. Er wird derzeit mit Wasserwerfern geführt. Der Frontverlauf ist unübersichtlich: Die Anhänger des Obskurantismus sind nicht bloß Spinner und Scharlatane, Impfgegner und Coronaleugner. Die Anhänger der Aufklärung und medizinischen Wissenschaft sind nicht immer die Minister, Abgeordneten, Parteien und Gewerkschaften, die sich als solche darstellen. Auch nicht jene aufklärerische Presse, die täglich Horoskope publiziert.

Auslöser des Kampfs zwischen Aufklärung und Obskurantismus war die Religion. Das Bistum fährt jedes Jahr Kranke und Behinderte in Bussen nach Lourdes. Dort dürfen sie Heilwasser aus der Grotte der Marienerscheinung abfüllen oder kaufen. Im „Jahr der Barmherzigkeit“ 2015 predigte Dechant Tom Kerger ihnen, „wéi wichteg hiert Leiden an hiert Gebiet fir d’Liewe vun der Kierch ass.“ Das Bistum wird mit Millionen staatlich gefördert.

Mitte der Achtzigerjahre nahm eine spiritistische Sekte am Melickshof Heilrituale an Kranken vor. Eines ihrer Heilmittel war Sauerkrautsaft. Zu den Anhängern Engel Alberts gehörten die CSV-Stadträtin Hilda Rau-Scholtus und der spätere ADR-Abgeordnete Jean Colombera.

Homöopathische Globuli bestehen aus Haushaltszucker mit restlos verdünnten Zusätzen. Das Règlement grand-ducal du 20 juin 1996 relatif aux médicaments homéopathiques lässt homöopathische Präparate als Medikamente für Menschen und Tiere zu. Es verfügt, dass die Kügelchen und Tinkturen „ne peuvent pas faire l’objet d’une mesure d’interdiction de délivrance ou de retrait du marché au motif que l’effet thérapeutique fait défaut“ (Art. 52). Das Reglement wurde von LSAP-Gesundheitsminister Johny Lahure und CSV-Landwirtschaftsminister Fernand Boden verfasst.

Artikel 22 des Code de la sécurité sociale sieht vor, dass die Kosten homöopathischer Präparate von der Krankenversicherung erstattet werden. Er nimmt homöopathische Präparate von Artikel 23 aus. Der verlangt, dass erstattungsberechtigte Heilmittel „conformes aux données acquises par la science et à la déontologie médicale“ sein müssen.

Homöopathie gehört zum Arsenal der Anthroposophie. Der von dem Österreicher Rudolf Steiner (1861-1925) erfundene Glaube mischt Mystik, Esoterik und Rassenkunde. In einem Flugblatt Info Naturata wirbt die Bioladenkette „[d]’après la doctrine de l’alimentation anthroposophique“ für den Kauf von Obst und Gemüse. Steiner erfand auch die biologisch-dynamische Landwirtschaft. Anthroposophisch ist die Waldorfschule. Sie schwärmt auf ihrer Internet-Seite von Steiners „multifaceted genius“. Das Tageblatt berichtete am 8. April, dass die Privatschule sich keine Schutzmaßnahmen gegen Corona vorschreiben lassen wollte. Die Waldorfschule wird mit Millionen staatlich gefördert.

Manche Gründermütter und -väter der grünen Partei waren mit Anthroposophie, Krishna, Children of God und Hexenglaube groß geworden. „Die vorherrschende Medizin westlicher Prägung ist krank. Sie leidet am krassen Materialismus,“ hieß es in ihrem Wahlprogramm 1994. „Wir brauchen eine Aufwertung sanfter Heilmethoden“ (S. 17). Das Wahlprogramm 1999 versprach „einen „gesetzliche[n] Rahmen für die Anerkennung sogenannter ‚sanfter Therapien‘ wie z.B. Akupunktur, Homöopathie, Osteopathie, Chiropraxis“ (S. 23).

Die Teilnehmer der Marches blanches folgten Aufrufen aus dem Internet. Aber sie tauchten nicht aus dem Nichts auf. Sie kamen nicht einmal vom gesellschaftlichen Rand. Subventionierte Aberglauben und alternative Parteiprogramme nährten ihr Weltbild. Nun legitimieren sie es. Gepaart mit neoliberaler Entsolidarisierung und Staatsfeindlichkeit. Die Regierungsparteien kennen das. Corona zu leugnen und Impfungen abzulehnen, achtet die Regierung als seriöses Angebot auf einem liberalen Markt der Meinungen. Da kann die ADR nur lachen. Engel Albert ist ihr Schutzpatron.

Romain Hilgert
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