Die Personalisierung des Wahlkampfs schaukelt sich weiter krampfhaft hoch, sowohl in den sozialen Medien als
auf den traditionellen Kanälen

Nähe-Distanz-Problem

d'Lëtzebuerger Land vom 22.09.2023

Das Spiel mit der Aufmerksamkeit vor dem Wahlkampf erreicht langsam seinen Zenit. Und wir sind um einiges schlauer, vor allem dank neuer Formate, die uns die Politiker/innen „näher“ bringen. Wir wissen nämlich nun, welche Farbe der Wohnzimmerschrank von Mars di Bartolomeo (LSAP) hat, wie David Wagner (Déi Lénk) das Basilikum stampft, um das perfekte Pistou hervorzuzaubern – und, dass viele Politiker/innen Sahne von Luxlait bevorzugen.

Sogenannte Homestories haben gerade Konjunktur, sowohl auf RTL als auch auf den parteieigenen Kanälen. Die LSAP etwa begann im April, Einblick in die privaten Räumlichkeiten ihrer Kandidat/innen zu gewähren, ganz nach dem (deutlich professioneller produzierten) 73 Questions-Format von Vogue. „Doheem beim Mars di Bartolomeo“ hieß die erste Folge: „Mars“ führte durch sein Haus, stellte uns seine schlafende rothaarige Katze namens Tiger vor und lobte, ein Stück Stahl in der Hand, seinen Vater und Großvater, beide für die Schmelz tätig, für den Sinn für Gerechtigkeit und Solidarität, die sie ihm eingepflanzt hätten. Mittlerweile umfasst die Serie neun Videos. Die Frage: „Wieviel Privatsphäre opfert man dem Stimmenfang?“ beantworten die Politiker/innen dabei unterschiedlich: Während Lydia Mutsch dem Kameramann die Tür ihrer „Villa blanche“ vor der Nase zumacht, um sich von ihm zum Markt begleiten zu lassen, zeigt Simone Asselborn-Bintz ihre Bibliothek samt luxemburgischen Theaterwerken. Francine Closener ist eher zurückhaltend, das Innendesign ihres Hauses bleibt dem Zuschauer vorenthalten, sie setzt sich für das Interview auf ihre Terrasse. Dan Biancalana, sichtlich nervös, kann den Gang auf den Balkon samt Espresso scheinbar kaum abwarten, nachdem etwas zu lange in seiner Küche verweilt wurde.

Die Videos klicken sich trotz ihrer gestelzten und banalen Manier prächtig – mit um die 38 000 Ansichten sind sie die erfolgreichsten auf dem parteieigenen LSAP-Youtube-Kanal, wahrscheinlich auch gerade weil sie so peinlich anmuten. Auch das Magazinformat „Politik & Pasta“ von RTL präsentiert uns die Spitzenkandidaten in familiärem Umfeld, diesmal hinter dem heimischen Herd, um ein – Achtung, menschennäher geht es nicht – Nudelgericht zu kochen. Bisher kochten Fred Keup (ADR), Sam Tanson (Déi Gréng), David Wagner (Déi Lénk), Luc Frieden (CSV), Sven Clement (Piraten) und Yuriko Backes (DP) Carbonara, Bolognese oder Kniddelen mit Pesto. Die einen meisterten die Übung entspannter als die anderen: Denn es geht weniger um Politik als um Smalltalk und Slow-Motion-Aufnahmen von weißen Schürzen, zum Teil untermalt mit Musik, die man „sexy“ nennen könnte, während Zwiebeln, Möhren oder Speck geschnippelt werden.

„Braucht man das? Nein. Heißt das, dass man die Sendungen nicht produzieren sollte? Nein“, sagt Steve Schmit, Content-Direktor von RTL, im Gespräch mit dem Land. Es handle sich bei den Sendungen um komplementäre Formate zu den Nachrichtensendungen, in denen politische Inhalte diskutiert würden. Doch auch er erkennt, dass der Druck, sich persönlich zu profilieren, in den letzten Jahren größer geworden ist. „Die Menschen interessieren sich immer mehr für die Person als für den politischen Diskurs“, erklärt er. Dadurch, dass die großen Parteien inhaltlich immer mehr zueinander gerutscht wären, müssten die Politiker/innen andere Wege finden, ihr Profil zu schärfen. Das Konzept sei für diese Formate immer, das Publikum über den „Menschen an den Fakt“ zu bringen. Heute gehöre das wohl einfach dazu, wenn man sich politisch engagiere. Die Formate sind von den Klickzahlen jedoch nicht zu vergleichen mit „Background“, „Kloertext“ oder „Journal“, die deutlich mehr angeschaut werden, erläutert Steve Schmit.

Hierzulande, wo die Größe einen anderen Umgang zwischen den Menschen diktiert, ist man den meisten Politiker/innen jedoch sowieso automatisch „näher“: Sie stehen ohne Bodyguard auf dem Stater Markt oder der Schueberfouer herum. Das Spiel mit der Nähe treiben sie weiter, indem sie das Identifizierungspotenzial bei den Wähler/innen mit Slogans wie „No bei dir“ wecken. „Ich bin wie du!“ lautet die Botschaft dahinter. Es scheint, als könne der politischen Karriere nichts schädlicher sein als Menschenscheu oder vermeintliche Abgehobenheit. Das Wahlsystem des panachage, das das „Wählen nach Köpfen“ und persönlichen Sympathien verstärkt, trägt zu einer – immer schon – vergleichsweise hohen Personalisierung der politischen Debatte bei.

Neu ist diese Art von Homestory nicht, auch in den 1990-er- und Nullerjahren gab es Fotostrecken der Politiker im Télécran oder in der Revue. Der fun fact zu Jean-Claude Juncker war, dass er einen Flipper in der Garage hat, den er gern bespielt. Heute singt Premier Xavier Bettel (DP) im Weinkeller von Grevenmacher mit den Gästen und streamt das Ganze auf seinem Tiktok-Kanal, um die Gen Z zu erreichen. Der mediale Wandel beeinflusst die politische Kommunikation also zunehmend, die eigene Inszenierung hat sich angepasst, ist intensiver und diversifizierter geworden. Xavier Bettel war einer der ersten, der Facebook beim Wahlkampf 2009 aktiv nutzte. Was das Kochen angeht, zog er es nun vor, seiner Ko-Spitzenkandidatin den Vortritt zu lassen, vielleicht auch aus Sicherheitsbedenken. Wie alle anderen macht Bettel sich die sozialen Medien zu eigen, um seine Sichtbarkeit und Beliebtheit zu steigern und seine Inhalte zu verbreiten.

Die traditionellen Medien mussten ihre hegemoniale Stellung in den letzten zehn Jahren vermehrt aufgeben und stehen, in der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie, stark unter Druck, mit den neueren, schnelleren Medien irgendwie mitzuhalten. Auch aus diesem Grund werden spielerische Formate multipliziert: Kinderreporter bei „Kleng freet Grouss“ oder auch Politiker, die auf Hass-Kommentare aus dem Netz reagieren (inspiriert von Jimmy Kimmel Live, anno 2012). Die Formate führen den Zuschauern die Kandidaten als wahlweise lustig, kinderlieb oder kumpelhaft vor. Diese Personalisierung nehmen die Kandidat/innen in Kauf, je nach Charakter fördern sie sie aktiv.

Das Phänomen der Personalisierung sei auf die späten 1960-er Jahre und die „Trudeaumania“ unter Pierre Trudeau, Vater vom derzeitigen kanadischen Premier Justin Trudeau, zurückzuführen, schrieb der Politologe Ian McAllister bereits 2007 in dem Aufsatz The personalisation of politics. Ein Jahrzehnt später stellten Margaret Thatcher und Ronald Reagan ihre jeweiligen Parteien in den Schatten und wurden zum alleinigen Symbol ihrer Politik. In anderen Ländern ließe sich ebenfalls in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert in Demokratien feststellen, dass Massenmedien verstärkt begannen, Namen von Politiker/innen stellvertretend für ihre Parteien zu benutzen, schreibt McAllister.

Etwa zeitgleich begann in Deutschland Willy Brandt, sich als Mensch „wie du und ich“ zu inszenieren, wie die Journalistin Tina Rohowski in ihrer Recherchearbeit Das Private in der Politik beschreibt. Sie erwähnt weitere interessante Thesen der Medienwissenschaft. Um einen in den Massenmedien dauerpräsenten Politiker könne sich etwa eine Art „Mediencharisma“ entwickeln, das als „unabhängiges Machtreservoir“ funktioniere: „Zahlreiche Medienauftritte, vor allem in unterhaltenden und personalisierten Formaten, prägen das ‚Image als eigenständige Person’. Die Popularität, die daraus möglicherweise erwächst, wird dann nicht der Partei, dem Parlament oder etwa einem Kabinett zugeschrieben. Sie bezieht sich auf die Person und bietet damit einen Machtfaktor und ein Druckmittel gegenüber der eigentlich repräsentierten Partei oder Institution.“ Und: Die „Vermenschlichung“ könne auch dazu führen, dass, wenn ein Politiker es schaffe, sich als verlässlicher Familienvater zu inszenieren, sich diese Eigenschaft auch auf die professionelle Tätigkeit übertragen lässt – dieser Mensch könne dann damit rechnen, „ein Teil aller Familien, gewissermaßen ein Bruttonationalvater“ zu werden – was wiederum die Wählerbindung fördert. Angela Merkel, die ihr Mutti-Image jahrzehntelang ziemlich erfolgreich kultivierte, hütete ihr Privatleben sehr. Obwohl es zu Berliner Stadtführungen immer noch dazugehört, ihre Wohnung unweit des Pergamonmuseums zu erwähnen, wäre es nie infrage gekommen, dass ein Fernsehteam sie zuhause beim Kochen filmt.

Was sagen die hiesigen Politiker dazu, Kameras in ihre Küchen zu lassen? Fred Keup (ADR) fand es „eher schön“ mitzumachen, da er gerne koche. Das Ganze sei relativ authentisch gewesen, man habe nicht „wie bei Stanley Kubrick“ jede Szene mehrmals wiederholt. Außerdem findet er, eine Reihe Journalisten zeugten selber von der Tendenz, sich mehr für die Nebensächlichkeiten zu interessieren als für die Wahlprogramme. Eigene Homestories hat die Partei nicht geplant – „aber vielleicht müsste man es machen, wenn die anderen es tun“.
David Wagner, Spitzenkandidat für Déi Lénk im Bezirk Zentrum, fühlte sich dagegen „sehr unwohl“ und war etwas irritiert, teilzunehmen. Doch man müsse als kleine Partei eben auch froh sein, einen Auftritt zu bekommen. Die Aufnahme habe zweieinhalb Stunden gedauert, von denen zehn Minuten übrig blieben. David Wagner stellt allgemein eine Entpolitisierung fest. Auch wenn es letztlich Menschen seien, die später im Parlament säßen, um Ideen umzusetzen – da sei es nicht ganz unwichtig, aus welcher Position jemand spreche. Trotzdem höre er oft, Menschen wollten „ideologiefrei“, also nach Köpfen, wählen. Er teilt die Ansicht von Steve Schmit, der Drang zur Personalisierung sei in den großen Parteien noch stärker, da sich ihre Positionen nicht sonderlich voneinander unterschieden.

Erklären kann man die in Luxemburg scheinbar erstarkende Tendenz zur Personalisierung vielleicht auch damit, dass es den Menschen hier – vergleichsweise – gut geht. Man kann sich also auf das Unwesentliche konzentrieren. Dabei wäre eine Versachlichung der Debatte gerade hier dienlicher als der Fokus auf die Politiker als Privatpersonen.

Sarah Pepin
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