ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Müssen dürfen

d'Lëtzebuerger Land vom 30.05.2025

Anscheinend steht den Unternehmern das Wasser bis zum Hals. Und sogar höher: „[L]es entreprises ont urgemment besoin d’une bouffée d’oxygène pour pouvoir mieux fonctionner.“ Flehte vergangene Woche die Union des entreprises luxembourgeoises (Pressemitteilung, 22.5.25). Sie weiß auch, wer den Sauerstoff spenden soll.

In seinem Neujahrsinterview beschrieb Premier Luc Frieden die Rentenversicherung metaphorisch. Er ließ die Klassengesellschaft als mehrschichtigen „Cappuccino“ erscheinen. Dann wären die oberste Kakaoschicht die glücklichen Besitzer von Fabriken, Banken, Werkstätten, Läden. Zur Verwertung, Vermehrung dieses Kapitals müssen sie Arbeitskraft kaufen. Diese Ware gibt es auf dem Arbeitsmarkt.

Die Verkäufer bleiben manchmal widerspenstig. Zartbesaitete Seelen sprechen dann von „Sozialkonflikt“, robustere von „Klassenkampf“. Am Ende dreht die Auseinandersetzung sich stets um den Preis der Arbeitskraft. Auch wenn Lobbys, Politikerinnen, Leitartikler sie mystifizieren als Modernisierung, Sozialdialog, Rentenmauer, Konkurrenzfähigkeit, ESG, Brotneid, Work-Life-Balance, Lohnpreisspirale.

Maßeinheit für den Preis der Arbeitskraft ist die Arbeitszeit. Sie wird verrechnet in Portionen von acht Stunden am Tag, 40 Stunden die Woche, 40 Jahre das Leben. Darf es etwas mehr sein?

Die Unternehmer begannen eine geballte Offensive. Sie wollen den Preis der Arbeitskraft senken. Oft tun sie das mit Rationalisierungen, Indexmanipulationen. Derzeit versuchen sie es mit der Umformatierung, Verlängerung der Arbeitszeit.

In seiner Erklärung zur Lage der Nation kündigte der Premierminister eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit an: Das effektive Renteneintrittsalter „wäert iwwert eng Rei Joren all Joers stufeweis ëm dräi Méint verlängert ginn“. So wird die Summe des Ersatzeinkommens gekürzt. Etwa für Arbeiter, die zudem früher sterben. Leitende Angestellte, Selbständige werden steuerlich absetzbar auf eine dritte Rentensäule gehievt. Kurzfristig spart die Rentenversicherung nichts. Ziel sind die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die größere Verfügbarkeit der Arbeitskraft.

Demselben Zweck dient die verlängerte Arbeitszeit am Sonntag: „Amplaz d’Aarbecht op véier Stonnen ze limitéieren, soll een acht schaffen dierfen.“ Und am Abend: Die „Propos zu den Ëffnungszäiten am Commerce entsprécht der selwechter Iddi vu méi Optiounen a Choix“.

Die UEL verlangt „un allègement du contenu obligatoire des conventions collectives“. Wie ihn Luc Frieden und Arbeitsminister Georges Mischo mehrfach versprachen. Damit die einzelnen Unternehmer ohne Gewerkschaften verhandeln können. Mit Verhandlungspartnern, die zu ihnen in einem Subordinationsverhältnis stehen. Deren „Optiounen a Choix“ darauf hinauslaufen, müssen zu dürfen.

Ziel der Unternehmer ist es, „l’organisation du travail et du temps de travail“ von Kollektivverträgen auszunehmen. Die umfassende Verfügbarkeit der Arbeitskraft und die Arbeitszeit als Maßeinheit ihres Preises in Eigenregie zu organisieren. Womit sie „favoriseront la compétitivité“.

Gemäß dem Arbeitsrecht müssen die Unternehmen mit Einstellungen und Überstunden eine Reserve an Arbeitskraft kaufen, um Schwankungen der Nachfrage vorzubeugen. In einem „droit du travail moderne“ sollen die Beschäftigten sich zu jedem Zeitpunkt flexibel bereithalten. Die Lagerkosten ihrer Arbeitskraft selbst tragen. Das Ideal ist vielleicht der britische „zero-hour contract“.

CSV und DP halten die Gewerkschaften hin, lassen sie ihre Verachtung spüren. Die Unternehmer fühlen sich zum Klassenkampf ermutigt. Rechtzeitig zur Gewerkschaftskundgebung am 28. Juni kündigte die Regierung eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit an, forderte die UEL eine Aushöhlung der Kollektivverträge. Sie setzen auf Eskalation, als suchten sie die Entscheidungsschlacht. Nach dem Bankenkrach 2008 wurde die Sozialpartnerschaft zum unnützen Kostenfaktor. In Zeiten autoritärer Militarisierung der Gesellschaft setzt sich nun der Kasernenhofton durch.

Romain Hilgert
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