„Eine Gruppe von Radfahrern, die von einem Waldweg kam, war dabei, die Regionalstraße zwischen Stegen und Schieren zu überqueren“. Ein Radfahrer wurde dabei „von einem Kleinwagen“ angefahren. Der Radfahrer erlag seinen Verletzungen in den darauffolgenden Tagen, notierte die Verwaltung zur Ermittlung von Unfallursachen am 25. Mai 2023. Zwei Monate später hält sie fest: „Ein Fußgänger überquerte die Avenue des Alliés in Ettelbrück auf einem Fußgängerüberweg und wurde von einem SUV erfasst. Der Fußgänger starb innerhalb von 30 Tagen nach dem Unfall (...)“. In Erinnerung bleibt auch der Unfall auf der Neudorferstraße, der sich vor 15 Monaten ereignete. Die beiden Insassen des Gefährts, Vater und Tochter, sind noch am Unfallort gestorben sowie eine Fußgängerin, die auf dem Bürgersteig überfahren wurde. Mit einer Geschwindigkeit, die mehr als dreifach der erlaubten entsprach, sei das Auto unterwegs gewesen, meldeten die Behörden. Der Schweregrad des Aufpralls löste eine Debatte über Sicherheitsmaßnahmen aus. L’Essentiel titelte am Folgetag: „Überholverbot und Tempo 30 – welche Maßnahmen können uns vor schweren Unfällen schützen?“. Später wurde bekannt, dass der Fahrer möglicherweise vor dem Unfall das Bewusstsein verloren hatte.
Gestern hat das Transportministerium die neuesten Unfallzahlen veröffentlicht. Die Zahl an tödlichen Unfällen blieb hierzulande in den vergangenen zehn Jahren relativ stabil und schwankt zwischen zwei und vier Prozent; 2023 sind 13 Autoinsassen, fünf Motorradfahrer, vier Fußgänger und zwei Radfahrer sowie zwei Lieferwageninsassen gestorben. Allerdings nimmt die Zahl an Schwerverletzten drastisch zu: Während in der letzten Dekade die Einwohnerzahl um zwei Prozent zunahm, schoss der Anteil an schwerwiegenden Unfällen um 26 Prozent in die Höhe. 2015 wurden in der Kategorie „getötete und schwerverletzte Radfahrer“ 15 Personen eingetragen, mittlerweile sind es 40. Auch die Ortsangabe für schwere Unfälle verlagerte sich: Die meisten Unfälle finden Innerorts statt und nicht mehr überwiegend auf Landstraßen. Ein Indiz dafür, dass Alltagsradnutzer womöglich häufiger betroffen sind. Aus dem Bericht des Ministeriums geht ebenfalls hervor, dass die Geschwindigkeit Hauptursache für Verkehrsunfälle ist; 39 schwere Unfälle stehen zudem mit zu hohem Alkoholkonsum in Verbindung.
Im seit drei Monaten vorliegenden Mobilitätsplan der Stadt Luxemburg wird die Geschwindigkeit als einer von drei Faktoren genannt, der die Sicherheit und die Lebensqualität erheblich beeinflussen, neben dem Verkehrsaufkommen und der Infrastrukturgestaltung. Wie andere europäische Städte habe man deshalb entschieden in Wohnvierteln die Tempo-30-Zone zur Verkehrsberuhigung einzuführen. Das ist klug, denn Studien zeigen: Eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 Stundenkilometer senkt Verkehrsunfälle um bis zu 30 Prozent; außerdem erhöht sie die Überlebenschancen bei einem Unfall mit Fußgängern (Litman: Traffic Calming; Bonanomi: Le temps des rues). Der städtische Mobilitätsplan gibt darüber hinaus an, bei Straßen mit starkem Verkehrsaufkommen müssten für Radfahrer separate Spuren angelegt werden, „um ihre Sicherheit und die Qualität des Radverkehrs zu gewährleisten“. Der Plan soll aber nicht nur die Sicherheit des Stadtverkehrs erhöhen, sondern ebenfalls die zu erwartende Zunahme an sich Fortbewegenden regeln: Die Stadtplaner gehen von einer Einwohnerzahl aus, die von 123 391 Einwohnern (Stand 2020) innerhalb von zehn Jahren auf 179 908 anwachsen dürfte. Außerdem könnten 30 Prozent mehr Arbeitsplätze in Luxemburg-Stadt entstehen. Dabei soll der motorisierte Individualverkehr auf den heutigen Anteil stabilisiert werden, und erhöht werden sollte jener von Bus- und Tramnutzern sowie Fußgängern und Radfahrern. Aktuell werden 60 Prozent aller Fortbewegungen in der Hauptstadt mit dem Auto getätigt.
Nicht überzeugt von dem Plan zeigt sich François Benoy von déi Gréng: „Dass d’Foussgänger ze vill Rout hunn, de Vëlosreseau net gutt, an den Tram voll ass, wësse mir alleguer. Ma amplaz konkret Léisungsvirschléi ze liwweren, gi Bestandsopnamen an allgemeng Aussoe gemaach a weider Etudë bestallt“, moniert das Gemeinderatsmitglied. Wer die Grafiken des vorgelegten Plans aufschlage, könne feststellen, dass keine Radverbindungen zu den Hauptachsen vorgesehen wurden. Unklar bleibe auch, wo der Durchgangsverkehr gesperrt werden und wo das Fahrrad Vorrang haben soll. Überhaupt lese er keine Strategie und keinen Zeitplan aus dem Dokument heraus. „Es fehlt an politischem Mut und Willen“, so der grüne Gemeindepolitiker. Maxime Miltgen, LSAP Ratsmitglied, will ihrerseits am Montag in der Ratssitzung die 15-Minuten-Stadt als Lösungsvorschlag für Verkehrsprobleme zur Diskussion bringen. Die Lebensqualität in Stadtvierteln steige, wenn ihre Einwohner sich zu Fuß oder mit dem Fahrrad fortbewegen könnten – wenn Schulen, Arbeitsplätze und Freizeitaktivitäten Teil von Wohnvierteln sind. Sie vermisse in dem vorliegenden Mobilitätsplan eine Koppelung an städteplanerische Überlegungen. „Und zu oft wird auf eine steigende Einwohnerzahl verwiesen, um die verpasste Mobilitätswende zu entschuldigen“, so Miltgen. Mobilitätsschöffe Patrick Goldschmidt war vor Redaktionsschluss nicht für eine Reaktion erreichbar.
Paul Hammelmann, Präsident der Sécurité Routière, hatte bereits am Montag dieser Woche die neuesten Zahlen zu Verkehrsunfällen gesichtet. „Es müsste konsequent in separate Radwege investiert werden, um die Sicherheit der Radfahrer zu erhöhen. Auf der Route de Longwy können sich Radfahrer die Spur mit den öffentlichen Verkehrsmitteln teilen. In der Theorie ist das eine gute Idee. In der Praxis kollidieren Radfahrer mit den Verkehrssignalen von Bussen. Zudem halten zu viele Lieferwagen auf dieser Spur.“ Ähnliche Probleme würden in Shared-Space-Zonen auftauchen, die den Autoverkehr nicht wirksam abbremsen, wie es bis vor einigen Monaten in der Rue du Fossé der Fall war. Um die Sicherheit von Radfahrern zu erhöhen, habe sein Verein vor den letzten Kammerwahlen erstmals die Forderung der Helmpflicht gestellt. Jährlich organisiere er zudem ein Sicherheitswettbewerb für zehn- bis zwölf-jährige Radfahrer. Dennoch sieht man in luxemburgischen Städten kaum bis keine Schüler auf dem Zweirad – zu unsicher sind die Radspuren, urteilen wohl die meisten Eltern. Vielleicht hat die westflämische Stadt Kortrijk (Courtrai) einen Rat für die Verkehrsplaner: Dort hat die Kommunalverwaltung sich mit den Herausforderungen von Schülern auseinandergesetzt, um ihnen angepasste Radspuren bereitzustellen. Über 20 Prozent aller Schüler greifen heute in Kortrijk zum Rad.
Diese Woche wurde bereits am Montagmorgen ein Radunfall gemeldet. Gegen halb zehn in Hollerich ist ein Mann auf der Busspur gestürzt. Der Rettungsdienst samt Arzt kam angefahren. Die Aufregung war groß, denn die zur Hilfe Geeilten dachten wohl ein Bus sei am Unfall beteiligt, wie man den Bericht des CGDIS interpretieren kann. Aber dem war laut Polizeipressesprecher nicht so – nicht immer sind andere Verkehrsteilnehmer in einen Unfall verwickelt. Wie ein detaillierter Bericht aus dem Rhone-Departement ergibt, sind drei von vier Radstürze auf Hindernisse auf der Fahrbahn oder unaufmerksames Verhalten zurückzuführen (Amoros: Accidentalité à vélo et exposition au risque ). Es kommt also auf die Eigenverantwortung an – auf ein konzentriertes Fahren und die Instandhaltung seines Rads –, und zugleich ein einwandfrei befahrbares Wegnetz. Laut einer Ilres-Umfrage von Oktober 2020 wünschten sich denn auch 83 Prozent der befragten Radfahrer separate Radwege; etwa 80 Prozent sind ausschließlich auf ausgewiesenen Radwegen unterwegs und nur um die 35 Prozent auf gemischten Fahrspuren. Die Umfrage ergab zudem, dass 12 Prozent häufig zu ihrem Arbeitsplatz radeln, 12 Prozent zu Fuß gehen und 23 Prozent vor allem ihr Privatauto nutzen. Je jünger die Befragten, desto eher bevorzugten sie die „sanfte Mobilität“. Die DP-CSV-Koalition in Luxemburg-Stadt verspricht sich viel vom Fahrrad als Fortbewegungsmittel: Sie bezeichnet es als „entscheidend“, um „den zukünftigen Mobilitätsbedarf der Stadt zu sichern“. Schnellradstrecken sollen Richtung Mersch im Norden, Bartringen im Westen und Esch/Alzette im Süden entstehen. Viele Streckenverläufe werden jedoch recht vage angedeutet, wie jener, der den Rollingergrund mit Merl verbinden soll. Als der Mobilitäsplan Ende Juni in Limpertsberg interessierten Einwohnern vorgestellt wurde, drehten sich einige Wortmeldungen um die Radinfrastruktur: Frustration löst unter anderem der Vandalismus rund um die Velo‘oh-Räder aus – zu viele Stationen sind kaputt. Weshalb bei Open-Air-Konzerten keine separaten Abstellplätze für Räder aufgestellt werden, fragte eine Einwohnerin. Und die Präsidentin von Pro-Velo, Monique Goldschmidt, bemängelte, dass bei der Straßenplanung das Rad nicht konsequent mitgedacht wird.
„Mam Bob Jungels a Kevin Geniets sinn zwee Lëtzebuerger beim Tour de France dobäi“, wirbt RTL derzeit für sein Tour-Streaming. Luxemburg ist ein radsportbegeistertes Land: François Faber, Charly Gaul, Elsy Jacobs, Christine Majerus, Marie Schreiber, Jempy Drucker, Andy und Frank Schleck – Luxemburg zählt nicht wenige erfolgreiche Radsportler. Jean Asselborn (LSAP) sorgt regelmäßig für Aufregung, wenn über seine Touren bis ans Mittelmeer oder bis an die Spitze des Mont Ventoux berichtet wird; Radsportbegeisterte verfolgen die Strava-Werte von Martine Hansen (CSV) und Christophe Hansen (CSV); Fans aus Luxemburg fahren an den Start des Paris-Roubaix-Rennens oder zur Grande Boucle. Beim Vëlo-Summer tauchen Kleinkinder mit teuren Specialized-Treträdern und Eltern mit Carbonrädern auf. Aber die Radsportbegeisterung springt nur gemächlich in die Alltagsnutzung über. In der erwähnten TNS-Ilres-Umfrage gaben vier von zehn befragten Radfahrern an, es vor allem in ihrer Freizeit aus der Garage zu holen.
Will Luxemburg-Stadt den Radfahrer-Anteil erhöhen, müsste womöglich öfters über die Vorteile von E-Bikes kommuniziert werden: Sie ermöglichen ein windresistentes Fahren sowie eine große Reichweite ohne besondere Anstrengung. In anderen Worten, mit Elektromotor unterstützte Räder ermöglichen Bewegung ohne Schwitzen – ideal für eine Stadt deren Topografie die Überwindung von Höhenmetern abverlangt. Städte wie Grenoble, Straßburg, Kopenhagen und neuerdings Paris vermitteln über ihre Radinfrastruktur ein positives Selbstbild, auch diese Strategie könnte die luxemburgische Hauptstadt übernehmen, falls sie die Verkehrsberuhigung vorantreiben will. In Deutschland und den Niederlanden bietet einige Kommunen zudem fortlaufend Radkurse an. Der Mobilitätsplan verspricht seinerseits eine sichtbarere Ausweisung und durchgehende Gestaltung des Radwegnetzes, weitere Dienstleistungen wie Reparaturangebote und sichere Abstellplätze für die „manchmal sehr teuren“ Räder. Daran ist nichts auszusetzen, aber erneut fehlen Detailangaben: Wo, wann, wie werden diese Maßnahmen umgesetzt?