Der deutsche Satiriker Jan Böhmermann singt in seinem Lied „Warum hört der Fahrradweg hier einfach auf?“ so manchem genervten Radfahrer aus dem Herzen. Auch in Luxemburg-Stadt dürften sich einige Radfahrer diese Frage bereits des Öfteren gestellt haben.
Nachdem Luxemburg den Trend zur Einrichtung von provisorischen Pop-up Radwegen während des Lockdowns 2020 verschlafen hat und Lydie Polfer die Rufe nach sicheren Radwegen mit der Aussage „Luxemburg ist nicht mit Paris vergleichbar“ und „Luxemburg ist eine Festungsstadt und hat keinen Platz für Radwege“ abgekanzelt hat, wurde das Thema einer sicheren Fahrradinfrastruktur spätestens mit der Eskalation um die „Velosmanif“ 2021 von ProVelo zum politischen Dauerbrenner in der Hauptstadt. Die Nutzerzahlen an den Zählstationen (+36,5 Prozent im Jahr 2022), die erfolgreiche Wiederholung der „Velosmanif“ mit knapp 1000 Teilnehmern im vergangenen Sommer und das plötzliche Auftauchen zahlreicher Eltern samt Nachwuchs im Cargobike im Berufsverkehr scheinen den Trend zu bestätigen. Der Ruf nach einer sicheren Fahrradinfrastruktur wird immer lauter und doch kommt der Ausbau in der Hauptstadt nicht voran.
Martina Lohmeier, Professorin für Mobilitätsmanagement und Radverkehr an der Hochschule RheinMain, antwortet im Interview mit der Deutschen Welle auf die Frage, was in Städten passieren muss, um den Radverkehr zu fördern: „Der motorisierte Individualverkehr, sprich die Kraftfahrzeuge und demzufolge auch die Parkflächen, muss reduziert werden. Dafür braucht es gute Strategien und Lösungsansätze, damit alle mitgenommen werden.“ Beides scheint jedoch in Luxemburg-Stadt zu fehlen. Es gibt weder eine Strategie zum Ausbau eines flächendeckenden Radwegenetzes noch die Bereitschaft, den Raum der Personenkraftfahrzeuge zu begrenzen. Während es in Paris (Plan Vélo), Lyon (Voies Lyonnaises), London (Cycling Action Plan), Oslo (sykkelstrategi) oder Mailand (Biciplan Cambio) klare Strategien mit Budgets von mehreren Hundert Millionen Euro zum Ausbau eines flächendeckenden Netzes mit abgetrennten Radwegen gibt, sucht man den Posten „Fahrradinfrastruktur“ im Budget der Hauptstadt indes vergebens.
Die untergeordnete Rolle, die das Fahrrad in der Verkehrsplanung der Stadt Luxemburg spielt, zeigt sich auch daran, dass es keine Abteilung, nicht einmal eine verantwortliche Person für Radverkehrsplanung gibt. Im Gegensatz hierzu schuf Oslo bereits vor Jahren den Posten des „bicycle director“, der die Umsetzung der Fahrradstrategie überwacht. Die hiesigen Ingenieure scheinen jedoch wenig Interesse an dem Ausbau einer sicheren Fahrradinfrastruktur zu haben. So erwähnte Patrick Goldschmidt gegenüber dem Tageblatt etwa: „Zuerst sage ich dem Service de circulation: Ich möchte das anheben. Dann ist das eine sehr lange Diskussion – das würde nichts bringen.“
Die Rolle des Service de Circulation der Stadt Luxemburg bei der Planung von Radwegen ist also kritisch zu hinterfragen. So werden von den Verantwortlichen öfter Radwege verhindert als geplant. Regelmäßig werden Pläne mit dem Verweis auf deutsche Normen, insbesondere die „Richtlinien für die Anlage von Stadtstrassen - RASt“ der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV), blockiert. Selten wird jedoch erwähnt, dass sich die Regelwerke der privatwirtschaftlichen FGSV durch eine Hierarchie auszeichnen, die dem motorisierten Straßenverkehr die höchste Priorität einräumt, während demgegenüber der Rad- und Fußverkehr einen deutlich nachgeordneten Stellenwert erhält. So wird nicht nur vom deutschen Fahrradclub ADFC, sondern auch von Verkehrsplanern regelmäßig gefordert, die Regelwerke von der jahrzehntelangen Privilegierung des Autoverkehrs zu befreien. „Höher, schneller, weiter“ und „Vorfahrt für das Auto“ beschreibt zum Beispiel Professor Oliver Schwedes von der TU Berlin das Motto der FGSV. Gleichzeitig erfüllen viele Radwege in der Hauptstadt, wie beispielsweise die neuen Radwege in der Avenue Pasteur oder in der Avenue Marie-Thérèse, nicht einmal die Anforderungen der FGSV aus der Norm „Empfehlungen für Radverkehrsanlagen (2010)“. Man scheint sich die Normen also so zurechtzulegen, wie man sie gerade benötigt.
Rückendeckung erhalten die Beamten bei der Priorisierung des Individualverkehrs durch die Politik. So forderte Claude Radoux, Vizepräsident der Mobilitätskommission, im Gemeinderat die Radfahrer dazu auf, Kompromissbereitschaft zu zeigen, schließlich hätten die Anwohner „ein Recht auf einen Parkplatz vor der eigenen Haustür“. Parkplätze scheinen in der Hauptstadt also immer noch wichtiger zu sein als die physische Unversehrtheit der Radfahrer. Die Folgen dieser Politik zeigen sich in den Straßen. So stieg die Anzahl der Parkplätze im öffentlichen Raum von 34 992 im Jahr 2018 auf 35 599 im Jahr 2022. Von Reduzierung der Parkplätze und Priorisierung des Radverkehrs kann also keine Rede sein. Auch die Ausrede, dass bei neueren Projekten der Radverkehr immer mitgeplant werde, der Umbau von bestehenden Vierteln aber kompliziert sei, kann man so nicht gelten lassen. So fehlen auch in neuen Vierteln, wie in Nei-Hollerich, separate Radwege. Oft wird dies mit dem Argument begründet, dass in 30er-Zonen keine getrennten Radwege benötigt werden. Dies entspricht allerdings selten dem Sicherheitsbedürfnis vieler Radfahrer. So gaben in einer TNS-ILRES Umfrage von 2017 90 Prozent der Personen, die im Laufe des vergangenen Jahres Fahrrad gefahren sind an, sie wären bereit, regelmäßig eher ihr Fahrrad als das Auto zu benutzen, wenn es mehr vom Kraftfahrzeugverkehr getrennte Fahrradwege gäbe. Eine konsequente Förderung des Radverkehrs zur Lösung der Verkehrsprobleme in der Stadt muss also anders aussehen.
In diese Logik reiht sich auch die Schaffung der sieben neuen Fahrradstraßen (Val Sainte Croix, Rue d’Orange, Rue Sosthène Weis, Rue de la Vallée, Rue des Trevires und Rue Godchaux) ein, die im Laufe des Jahres 2022 eingeführt wurden. Eine Fahrradstraße zeichnet sich dadurch aus, dass der motorisierte Verkehr einen Radfahrer dort nicht überholen darf, dass dort nur Tempo 30 gefahren werden darf und etwa, dass Radfahrer zu zweit nebeneinander fahren dürfen. Fahrradstraßen können in Verbindung mit Verkehrsberuhigungen und Modalfiltern zur Unterbindung des Durchgangsverkehrs eine sinnvolle Ergänzung in einem Radwegenetz sein. Auf diese Maßnahmen verzichtet die Stadt Luxemburg jedoch gänzlich und setzt auf Minimallösungen. So werden Autofahrer und Radfahrer gegeneinander ausgespielt, indem die Verantwortung zur Sicherheit des Radfahrers an den Autofahrer delegiert wird, der oft nicht einmal bemerkt, dass er sich in einer Fahrradstraße befindet.
Den rein motorisierten Individualverkehr einzuschränken, um sichere Radwege zu bauen, scheint weiterhin ein Tabuthema zu sein. So wird zwar, wie schon seit langem gefordert, der Radweg in der Avenue Marie-Thérèse endlich vom motorisierten Verkehr getrennt und auf die Stufe des Gehweges gehoben. Eine hochwertige Radinfrastruktur wird jedoch trotz hoher Kosten auch hier nicht geschaffen: Es fehlt entlang des Stadtparks weiterhin auf einer Länge von 75 Metern ein abgetrennter Radweg und Radfahrer müssen sich bei gleichzeitig vier parallel verlaufenden Fahrspuren mit den Fußgängern einen schmalen Gehweg teilen. Die Verlängerung dieses getrennten Radweges bis in die Avenue Guillaume wurde unter anderem mit dem Verweis auf den herrschenden Parkdruck abgelehnt.
Ein kleiner Lichtblick ist immerhin die Schaffung eines separaten Radweges auf einem Teilstück des Boulevard Prince Henri. Weil ein Parkstreifen entfernt wurde, ist hier Platz für einen abgetrennten Radweg entstanden, der einen an die Radwege in Paris erinnert. Doch auch hier fehlen weiterhin die Anbindungen in Richtung Rond-Point Schuman und Pont Adolphe – Lücken im Radwegenetz ziehen sich wie ein roter Faden durch die Infrastrukturpolitik der letzten Jahre.
„Das Fahrrad ist das Verkehrsmittel, dessen Nutzung in den kommenden Jahren den stärksten Zuwachs verzeichnen muss. Andernfalls wird sich die individuelle Mobilität in den Ballungsgebieten erheblich verschlechtern“, heißt es im Plan National de la Mobilité 2035, der ebenfalls 2022 vorgestellt wurde. Für übergeordnete Radwege sieht der PNM2035 im Gegensatz zu der Philosophie der Stadt Luxemburg innerorts eine physische Trennung vom motorisierten Verkehr und vom Fußverkehr vor. In dieser Hinsicht erwarten wir mit Spannung den für Ende 2022 angekündigten „Mobilitéitsplang“ der Stadt Luxemburg, der die Mobilitätsstrategie der nächsten Jahre festlegen soll. Inwiefern dieser im Einklang mit den nationalen Leitlinien ist und welche Rolle das Fahrrad spielt, ist auf jeden Fall fraglich. Andererseits steht fest, dass es ein weiter Weg ist von der Strategie bis zum fertigen Radwegenetz und dass auf nationaler Ebene ein höheres Tempo eingeschlagen werden muss, wenn man die Ziele des PNM2035 erreichen möchte. So verfügt der Fonds du Kirchberg bereits seit 2020 über eine fertige, durchaus sehenswerte Studie des renommierten dänischen Büros Gehl (Cycling Network Kirchberg), doch abgesehen von einem neuen Radweg in der Rue Erasme geht es auch hier nur schleppend voran.
Die europäischen Großstädte haben gezeigt: Das Fahrrad kann auch außerhalb von Amsterdam und Kopenhagen zur Lösung der Verkehrsprobleme beitragen, sofern man den Bürgern eine durchdachte Infrastruktur bietet. Für die Kommunalwahlen im Juni 2023 erwarten wir nun von den politischen Parteien klare Zugeständnisse in Hinsicht auf eine Neuverteilung der Flächen im öffentlichen Raum. Die aktuelle Bürgermeisterin scheint hierzu jedenfalls nicht bereit zu sein. Unser Aufruf ist daher klar: #votebike2023.