Grey-Träger aus Luxemburg

Stützen der freien Welt

d'Lëtzebuerger Land vom 18.12.2015

Stahl war keine Frauensache: Die Männer waren unter sich, als sie sich im milden Sommerlicht für die historische Gruppenaufnahme aufstellten. Kein einziger wollte in dem feierlichen Augenblick barhäuptig bleiben. So lassen sich die Klassenunterschiede an den Kopfbedeckungen ablesen: Die auf den gängigen Trägern von 18 Zentimeter und 75 Zentimeter Steghöhe stehenden Arbeiter trugen ihre Stuerze­kapen, die Ingenieure und Werkmeister in der ersten Reihe dagegen leichte Kanotchen oder strenge Melounen. Ernst und stolz posierten sie hinter einem gewaltigen Stahlträger. Denn sie hatten in jenem Juni 1911 in Differdingen einen Weltrekord aufgestellt und den ersten breitflanschigen Träger mit einem einen Meter hohen Steg gewalzt.

Die Differdinger Hütte gehörte damals seit kurzem der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten-Aktiengesellschaft. Aber das gewaltige Grey-Profill war auch eine Kampfansage an das Deutsche Normalprofil, das, wie die aufstrebende deutsche Industrie, einen Teil des europäischen Marktes beherrschte. Mit zwei oder drei Walzen gefertigte Deutsche Normalprofile waren nicht nur kleiner, schwerer und weniger widerstandsfähig, sondern hatten auch schmalere und schiefere Flansche, so dass sie sich schwieriger vernieten und verschrauben ließen.

In den USA brauchte man dagegen breitflanschige, dünnstegige und robuste Träger, um so schnell und billig wie möglich jene Hochhäuser zu bauen, die zum Symbol des himmelsstürmenden amerikanischen Kapitalismus wurden. Deshalb hatte ein Ingenieur aus der Umgebung der legendären Stahlstadt Pittsburg, Henri Grey, eine neue Walztechnik entwickelt, bei der ein glühender Stahlblock, ohne gehoben oder gewendet zu werden, zwei Paar stehende und liegende Walzen durchläuft, welche den Trägersteg und die Dicke der Flansche formen, und gleichzeitig ein paar liegende Walzen, die die Breite der Flansche bestimmen. 1898 hatte Henri Grey dem Leiter der Differdinger Gruben- und Hochofengesellschaft, Paul Wurth, eine Lizenz für sein Patent angeboten, und der 35-jährige Paul Wurth griff mit dem Mut des First Movers sofort zu.

Die Gesellschaft überlebte allerdings die technischen Anlaufschwierigkeiten und den ersten Börsenkrach des neuen Jahrhunderts nicht. Als am 1. Juli 1901 der erste Grey-Träger das neue Universalwalzwerk in Differdingen verließ, gehörte es bereits der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten-Aktiengesellschaft. Sie investierte in den Ausbau der Grey-Straße, durch den innerhalb eines Jahrzehnts die Produktion von 9 000 auf 113 000 Tonnen erhöht und der Weltrekord von 1911 aufgestellt werden konnte. Ein Jahr nach dem Weltrekord erschoss die Polizei vor dem Werkstor drei streikende Arbeiter mit Stuerzekapen und den 13-jährigen Sohn eines Arbeiters.

Der Erfolg der Grey-Träger ebbte auch im Ersten Weltkrieg nicht ab. Im Gegenteil: Die Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten-AG produzierte für die Pioniertruppen des deutschen Heers in Frankreich. Die alliierte Luftwaffe bombardierte im Gegenzug das Werk, um die Produktion zu stoppen. Nach der deutschen Niederlage übernahm die von französischem, belgischem und luxemburgischem Kapital kontrollierte Hadir das Werk. Sie ließ 1921 von der Armee einen Streik gegen die Entlassung von 300 Arbeitern niederschlagen.

In der Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre warb Hadir in ihrer Not mit Ansichtskarten, auf denen man sah, dass man Grey-Träger auch als Strommaste für Eisenbahnlinien verwenden konnte. So wie in der Stahlkrise der Siebzigerjahre Politiker klagten, dass zur Unterstützung der Arbed leider nicht jeder Luxemburger Haushalt ein paar Grey-Träger kaufen könne. Doch immer wenn von Werksschließungen die Rede ging, wurde das Differdinger Werk mit seinen Grey-Trägern und seinen ebenso gewaltigen Spuntwänden zu den Kronjuwelen der Luxemburger Stahlindustrie gezählt.

Im Zweiten Weltkrieg war die Stahlindustrie in Luxemburg ein Bestandteil der deutschen Rüstungsindustrie. Deshalb veröffentlichte die Hadir 1946 eine Broschüre Les poutrelles Grey de Differdange au service des armées al­liées 1944-1945, in der erzählt wird, wie die amerikanischen Truppen auf ihrem Vormarsch gegen Deutschland mit Differdinger Grey-Trägern Brücken über den Rhein und andere Hindernisse schlugen.

Das war der Beginn der schönen Geschichte, wie Grey-Träger aus dem kleinen Luxemburg zu stählernen Säulen wurden, auf denen die Freie Welt gebaut ist, wie „Domini enim sunt cardines terrae, et posuit super eos orbem“ (1. Sam., 2:8). Das Differdinger Werk liefert bis heute Träger für den Bau von Hochhäusern und Brücken rund um den Globus, und ihren Höhepunkt erlebte die schöne Geschichte nach den Attentaten auf das New Yorker World Trade Center im Jahr 2001. Denn der 541 Meter hohe Freedom Tower, mit dem die USA und die Freie Welt zeigten, dass sie sich nicht unterkriegen ließen, wurde im Jahr 2006 mit Differdinger Stahlträgern gebaut. „This steel symbolises the resiliency of our great city and demonstrates to the world that New York is moving forward and that nothing will diminish our spirit”, rief der damalige Bürgermeister Michael R. Bloomberg aus. Gouverneur George E. Pataki erkannte einen heiligen Totempfahl in dem Differdinger Jumbo-Träger: „Today, America’s strength is evident in this column of steel; the footings for the great monument to freedom that is rising on this hallowed site.“

Ein Jahrhundert nach dem Weltrekord des Ein-Meter-Trägers von 1911 meldete Arcelor-Mittal einen neuen Weltrekord aus Differdingen: Im März 2013 lieferte das Differdinger Werk für den Bau einer Eisenbahnbrücke bei Dresden die längsten Jumbo-Träger der Welt. Die 60,6 Meter langen Träger waren aus jeweils über 37 und 23 Meter langen Trägern zusammengeschweißt und wurden auf jeweils drei hintereinandergehängten Spezialwaggons von CFL Cargo geliefert.

Grey-Träger gehören nicht nur zu den größten Industrieprodukten aus Luxemburg, sondern sind auch ein bemerkenswertes Stück Wirtschafts- und Technikgeschichte. Denn sie zeigen, wie eine Firma vor einem Jahrhundert ein Produktionsverfahren gekauft hat und es durch die Entwicklung des Know-how und ständige technische Anpassungen und Verbesserungen fertig brachte, bis heute Marktführer einer Spezialität zu bleiben.

Romain Hilgert
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