In Neimënster diskutierten Intellektuelle über die Instrumentalisierung des Antisemitismus-Begriffs. Mal erhellend, mal kurios. Jedenfalls ohne pro-israelische Stimmen, die eine Einladung ausgeschlagen hatten

„Nicht einander gegenüberstellen“

d'Lëtzebuerger Land vom 04.11.2022

Nur wenige Tage nach der Verkündung des diesjährigen Literaturnobelpreises zeigte sich das Simon Wiesenthal Center „schockiert“ darüber, dass die Wahl ausgerechnet auf die französische Schriftstellerin Annie Ernaux gefallen war. Eine „linksextreme Aktivistin, die regelmäßig Israel als Apartheidstaat bezeichnet und die umstrittene BDS-Bewegung unterstützt“, so die internationale Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Los Angeles in einem Brief an die Schwedische Akademie. In ihrem Schreiben äußerte sie zudem die Befürchtung, dass das Preisgeld von über einer Million Dollar der „Unterstützung gewalttätiger Aktionen“ von als Terrorgruppen auf EU-Listen geführten „propalästinensischen Organisationen“ zukommen könnte.

Wie es dazu kam, dass ein „literarischer Leitstern“ (Denis Scheck) wie Annie Ernaux auf einmal mit Menschenhass in Verbindung gebracht werden konnte – der Zentralrat der Juden in Deutschland bezeichnete die literarische Kür als „Rückschlag für den weltweiten Kampf gegen Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit“ –, darüber gab eine Ende Oktober vom hiesigen Comité pour une paix juste au Proche-Orient (CPJPO) unter Beteiligung von Jewish Call for Peace veranstaltete internationale Tagung über Antisemitismus Einblick. Unter dem Motto „Antisemitismus: Zwischen Verharmlosung, politischer Instrumentalisierung und ideologischer Sinnentfremdung“ sprachen unter anderem der ehemalige Leiter des Fritz-Bauer-Instituts Micha Brumlik, der Leiter des Jüdischen Museums in Hohenems (Österreich) Hanno Loewy und Sylvain Cypel, ehemaliger Chefredakteur der Tageszeitung Le Monde.

Die Tagung begann mit einem Rückblick des Erziehungswissenschaftlers und Publizisten Micha Brumlik auf die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zu Adolf Hitler und dem radikalen Islam. Ein Vortrag, der unbeabsichtigt die Hartnäckigkeit von klischeehaften Vorstellungen bestätigte, als gegen Ende ein Zuhörer den sichtlich verdutzten Micha Brumlik fragte, „wie sich denn eigentlich die Juden selbst“ sähen. Klar wurde aber auch, auf welch großen Fundus politische Propaganda hier zurückgreifen kann, wollte sie den Antisemitismus instrumentalisieren.

Formen der demagogischen Vereinfachung, denen sich der Historiker Henri Wehenkel insbesondere in der jüngeren luxemburgischen Geschichtsdeutung widersetzt. In einem richtungsweisenden Vortrag sprach das Gründungsmitglied des CPJPO von den Luxemburgern ironisch als einer Nation, aus der man nach dem Krieg zuerst ein „Volk von Widerständlern“ und seit einiger Zeit ein „Volk von Antisemiten“ habe machen wollen. Ersteres sei bekanntlich durch den Artuso-Bericht ein für alle Mal als Wunschvorstellung entlarvt worden. Beim Thema Antisemitismus und der Schuldzuweisung an der Judenverfolgung sei allerdings ebenfalls Vorsicht geboten. Nicht etwa, weil Kollaboration nicht stattgefunden oder die Bevölkerung sich während der deutschen Besetzung schützend vor ihre jüdischen Mitbürger gestellt und ihnen in großer Zahl Unterschlupf gewährt hätte. Sondern, weil man so Juden und Luxemburger „einander gegenüberstellt“. Aggressiver Antisemitismus, Schlagwörter wie „jüdisches Blut“ oder die Verbindung von Judentum mit „Weltherrschaft“, so Wehenkel, seien immerhin erst im Kontext der Wirtschaftskrise von 1873 und europaweiter antisemitischer Kampagnen prominent durch das Luxemburger Wort, in einer dafür eigens geschaffenen Rubrik mit dem Titel „Jüdisches“, propagiert worden. Als gezielter Angriff auf die jüdischen Unternehmer Godchaux, die als Teilhaber an der Arbeiterzeitung Der Arbeiter stellvertretend zugleich für einen unbändigen Kapitalismus und eine daraus resultierende sozialistische Bedrohung herhalten mussten. Dabei seien die Juden in Luxemburg seit den napoleonischen Dekreten „vollkommen integriert“ gewesen. Noch in Montpellier, im südfranzösischen Exil habe sich während des Krieges am Beispiel des früheren Justizministers René Blum ein bemerkenswertes Stück jüdisch-luxemburgischer Geschichte abgespielt: Entgegen dem Willen der Luxemburger Vertretung in Vichy habe Blum tausende Zertifikate für jüdische Flüchtlinge ausgestellt. Begriffe wie „jüdische Minderheit“ lehnt Wehenkel aus diesem Grunde als irreführend ab.

Sein Vortrag konnte als versteckter Kommentar zu Renée Wageners in der gleichen Woche erschienen Studie Emanzipation und Antisemitismus aufgefasst werden. Die Aussage der Historikerin, Antisemitismus sei seit der Nachkriegszeit „verstärkt in linken Milieus anzutreffen“, lässt aufhorchen. Eine Analyse dazu stehe aber noch aus, so wird die Historikerin in der Woxx zitiert.

Doch wie antisemitisch ist Luxemburg eigentlich? Nenad Dubajic, Forscher am Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (Liser), lieferte dazu ein paar interessante Zahlen. Auf die Frage, welchen Nachbarn sie sich am wenigsten wünschen, antworteten 42 Prozent der Befragten mit „Araber“. 5,5 Prozent „nur“ gaben an, keine jüdischen Nachbarn haben zu wollen. Das geht aus einem Bericht des Liser über Rassismus und ethnisch-rassische Diskriminierung in Luxemburg vom März 2022 hervor. Gleichwohl, so Dubajic, unternehme Luxemburg zur Bekämpfung von Rassismus noch zu wenig. Übergriffe würden in der Regel nur selten gemeldet und Opfer zum Schweigen angewiesen.

Dass es bei der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) einmal im Wesentlichen um die Kriminalisierung von Israel-Kritik gehen würde, das hätte sich wohl auch bei der Luxemburger Delegation keiner vorstellen können. Überraschend findet der Leiter des Jüdischen Museums in Hohenems, Hanno Loewy, es dennoch, dass unter den vertretenen Staaten und Personen niemand den Mut aufgebracht habe, etwas zu sagen, als klar wurde, dass eine von der IHRA aufgestellte Antisemitismusdefinition Antisemitismus mit Israel-Kritik vermischt. Die Liste der Mitglieder der IHRA lese sich wie ein who’s who der internationalen Forschung und nicht wenige fühlten sich inzwischen hinters Licht geführt – „hijacked“, wie es Hanno Loewy nannte. Davon abgesehen, dass die Formulierung, Antisemitismus sei „eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann“, ja im Grunde eine „Nullerklärung“ sei, da sie lediglich besage, „dass wer hasse, etwas hasse“. Wenn es des Weiteren heiße, „Erscheinungsformen von Antisemitismus“ könnten sich auch „gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten“, dann müsse daran erinnert werden, dass es nicht in erster Linie die Antisemiten seien, die den Staat Israel als Kollektiv bezeichneten, sondern die israelische Regierung selbst. Als „Kippfigur“ bezeichnet Hanno Loewy solcherart verfängliche Formulierungen, die „einer Praxis Tür und Tor öffnen, das zu verbieten, was man verbieten möchte“.

Nationalisten und White Supremacists: Israels neue Verbündete?

Sowohl die Assemblée Nationale in Frankreich als auch der Deutsche Bundestag haben für die sogenannte „rechtlich unverbindliche Arbeits-Definition“ gestimmt. Auch Luxemburg hat die Definition in einer parlamentarischen Sitzung angenommen – allerdings ohne die umstrittenen Beispiele. Das werde aber gerne unterschlagen, allen voran in den Publikationen von Recherche et information sur l’antisémitisme au Luxembourg (Rial), einer selbsternannten Beobachtungsstelle für Antisemitismus, die auffällig oft (wie umgekehrt auch) über das CPJPO berichtet und dessen Erhebungen auch nicht in die oben genannte Liser-Studie mit eingeflossen sind. De facto habe die IHRA-Definition aber auch ohne rechtliche Verbindlichkeit mittlerweile einen verbindlichen Charakter angenommen, so Michel Legrand vom CPJPO. Eine Tatsache, die Hanno Loewy aber nicht allein der israelischen Propaganda zuschreibt. Die „Boycott, Divestment and Sanctions“-Bewegung (BDS) beispielsweise habe „Israel den vielleicht größten Erfolg seit 1967“ beschert, wie Loewy mit einigem Sarkasmus bemerkte. Grund hierfür sei das Beharren der BDS-Bewegung auf der Rückkehr der Flüchtlinge von 1948; eine der Hauptforderungen der Palästinenser, die allerdings nur wenig Unterstützung finde, da sie die De-facto-Zerstörung des israelischen Staates bedeute. Zu den weiteren Forderungen von BDS gehört das Ende der israelischen Besetzung der 1967 eroberten arabischen Gebiete sowie der Abbau der Mauer im Westjordanland und die Anerkennung des Grundrechts der arabisch-palästinensischen Bürger Israels auf völlige Gleichheit.

Was die IHRA-Mitgliedschaft wiederum für Luxemburg bedeute, dazu wollte Anne Goedert, Botschafterin für Menschenrechte und Delegationsleiterin von IHRA Luxemburg, lieber nicht allzu viel verraten. Auf die Frage von CPJPO-Mitglied Henri Grün, ob sie eine Erklärung dafür habe, warum man mit Antisemitismus-Unterstellungen kritische Diskussionen zu Israel abwürgen wolle, meinte die Diplomatin des Außenministeriums einsilbig: „Nein, nicht wirklich.“ Hanno Loewy verstieg sich noch zu der Aussage, Israel gedenke eben kolonial nachzuholen, „was EU-Staaten im 19. Jahrhundert hinter sich gelassen haben“. Es war der vorläufige Höhepunkt einer Tagung, die einmal mehr bewies, wie isoliert linke Israel-Kritik mittlerweile dasteht. Pro-israelische Stimmen kamen nicht zu Wort. Einladungen an die Vereinigung MemoShoah und an Rial seien von diesen ausgeschlagen worden, so Martine Kleinberg von Jewish Call for Peace.

Wie ein unfreiwilliger Stimmungsaufheller wirkte da der Vortrag der deutsch-palästinensischen Forscherin Anna Younes zu „antiisraelischem Antisemitismus“. In rasendem Tempo dozierte die immerzu ins Amerikanische abgleitende Younes, in einer Art akademischem Esperanto zu „submissive brown women“, Juden, die noch „bis vor Kurzem nicht weiß“ gewesen seien und das „Rassifizieren“ von als Muselmännern beschriebenen Juden bei Primo Levi… Oder, wie es Younes selbst vielleicht am besten resümierte: „Am Check-Point gehe ich lieber zum Ashkenazy-Juden.“

Dank Sylvain Cypels wortmächtigem Auftritt nahm die Tagung dann noch einmal Fahrt auf. In seinem Vortag verurteilte der ehemalige Chefredakteur von Le Monde die Tatsache, dass Israel die Shoah „vollkommen für sich“ beanspruche und sie zudem als „Schild für die eigenen Verbrechen“ einsetze. Gleichzeitig verblasse in der israelischen Gesellschaft immer mehr die eigene Geschichte. Insgesamt schwinde das Wissen um die Shoah. Gegenwärtig sieht der Publizist in der israelischen Gesellschaft eine Mischung aus Ideologie und Ignoranz am Werk. Nur ihr sei es zuzuschreiben, dass Benjamin Netanyahus Behauptung, Hitler habe die Juden gar nicht umbringen, sondern nur verjagen wollen, in der israelischen Gesellschaft kaum für Aufregung gesorgt habe. Den Plan, die Juden zu ermorden, auf eine Idee des hitlerfreundlichen Großmuftis von Jerusalem zurückzuführen, wie es der frühere und wahrscheinlich auch künftige israelische Premierminister anschließend tat, sei der Versuch, so Cypel, die Verantwortung für die Shoah auf die muslimischen Palästinenser zu übertragen. Politisch habe diese Bemerkung Netanyahu, der für seine Nähe etwa zu dem hinduistischen Nationalisten Modi oder den Rechtspopulisten Bolsonaro in Brasilien und Orbán in Ungarn bekannt ist, derweil nichts gekostet. Die tagtäglichen Antisemitismus-Anschuldigungen bezeichnete der französische Publizist als „fatale Waffe“, als „wissentlich fälschlichen Vorwurf“. Alle Umfragen deuteten darauf hin, dass sich das Bild Israels in der Welt stetig verschlechtere, insbesondere unter jungen amerikanischen Juden. Vor diesem Hintergrund sei der Antisemitismus für Israel lebenswichtig geworden. Genauso wie, absurderweise, die Annäherung an Nationalisten und white supremacists in den USA. „Sie denken wie wir“, zitiert Cypel den früheren israelischen Botschafter in den USA.

Die eingangs erwähnte Annie Ernaux hat bislang nicht auf die gegen sie vorgebrachten Antisemitismus-Vorwürfe reagiert. Lediglich in der Literatursendung La Grande Librairie im französischen Fernsehen gab die frisch gekürte Literaturnobelpreisträgerin an, neuerdings, da einige es sich herausnähmen, ihre Legitimität infrage zu stellen, vom „Gefühl der Unrechtmäßigkeit“ befreit zu sein, das sie bei früheren Preisverleihungen erfasst habe.

Frédéric Braun
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