Türkei

„Handlanger internationaler Medien“

d'Lëtzebuerger Land vom 16.08.2019

Journalistische Sommerlöcher kennt die Türkei nicht. Katastrophen, Korruptionsfälle, ja, selbst blutige Putschversuche finden im Sommer statt, und nicht nur dann. Die Journalisten des Landes klagen nicht über Langeweile. Abgesehen von Morden an Medienvertretern, die leider eher keine saisonale Erscheinung sind, kommt es aber selten vor, dass Journalisten selbst Schlagzeilen machen. Dieser Sommer bildet eine Ausnahme.

Kürzlich hatte ein Gericht in Ankara 136 kritische Webseiten und Blogs blockieren lassen. Die Nachrichten über die Zensur krachte wie eine Bombe in die an Aufregung nicht arme Zeit. Die Wellen der Empörung wogten – unerwartet – hoch. Unerwartet deshalb, weil die türkische Öffentlichkeit seit Jahren daran gewöhnt ist, dass Medien drangsaliert, Journalisten mit hanebüchenen Begründungen ins Gefängnis geworfen und unter Terrorismus-Vorwürfen zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt werden.

Obwohl die meisten der gesperrten Webseiten kleine, linke, kurdische und alevitische Medien sind, die sich keiner großen Leserschaft erfreuen, war die öffentliche Kritik nicht zu überhören. Diejenigen, die die Zensur betrieben hatten, waren offensichtlich ebenso überrascht von der heftigen und couragierten Kritik. Die Zensoren gingen nicht nur in die Defensive, vielmehr sie ruderten auch ein Stück weit zurück. Einige sind offizielle Organe kurdischer, verschiedener kommunistischer und alevitischer Organisationen. Andere Webseiten stören den türkischen Staat immer wieder, weil sie die Zensuranweisungen ignorieren und zum Beispiel berichten, welche Gewaltakten in dem Land weiterhin täglich stattfinden.

Schnell meldete sich die Stabstelle der Gendarmerie, die den Verbotsantrag stellte, beim zuständigen Gericht und teilte mit, bianet.org, ein ebenfalls kleines, aber wegen seiner Berichterstattung angesehenes Nachrichtenportal, sei „durch einen Fehler auf die Liste gelangt“. Eilig wurde die Sperre für bianet.org wieder aufgehoben. Dass bianet.org teilweise aus EU-Fonds finanziert wird, spielte vielleicht auch eine Rolle bei dieser Entscheidung. Die restlichen Webseiten und einige Seiten der sozialen Netzwerke, wie das Twitter-Konto der oppositionellen Abgeordneten Oya Ersoy, bleiben jedoch vorerst weiterhin gesperrt.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat bereits vor Jahren damit begonnen, die einst vormals weitgehend frei berichtenden türkischen Medien systematisch unter Druck zu setzen. Nicht mit gesetzlichen Einschränkungen, sondern durch schlaues Infiltrieren. Der erfahrene und kritische Journalist Aydin Engin beschreibt dieses Vorgehen im Blog international.die-linke.de so: „Ein Finanzpool, der aus höchstens fünf oder sechs großen Bauunternehmen besteht, die den Löwenanteil bei staatlichen Ausschreibungen erhalten, hat Zeitungen und Fernsehanstalten aufgekauft und deren Führungsetagen mit Leuten bestückt, die Erdogans Empfehlungen und Anweisungen befolgen.“

Nachdem die größte Mediengruppe des Landes, die Dogan-Gruppe, unter enormem politischen Druck an die regimetreue Demirören-Gruppe verkauft wurde, verschlechterte sich die Lage in Sachen Medienvielfalt dramatisch. „Jetzt sind 93 Prozent der Print- und 91 Prozent der visuellen Medien im wahrsten Sinne des Wortes zu „Organen“ geworden“, so Engin.

Auch der jüngste Zensurversuch kam keineswegs aus heiterem Himmel. Anzeichen eines erneuten Angriffs des autokratischen Regimes auf kritische Medien häuften sich bereits im Vorfeld. Denn seitdem die größten und bekanntesten Medien von Erdogans Helfern unterwandert sind, sind es vor allem die kleinen Medien im Internet, die dem Regime ein Dorn im Auge sind.

Mit einer Anordnung vom 1. August 2019 versucht der türkische Hohe Rat für Rundfunk und Fernsehen (RTÜK) zur Zeit, das Internet unter seine Kontrolle zu bringen. Laut ihr müssen ab jetzt Sender und Livestream-Kanäle, die in der Türkei über Internet empfangen werden, nicht nur hohe Gebühren zahlen, sondern auch Lizenzen beim Staat beantragen.

Diese Anordnung scheint in erster Linie Angebote wie Netflix, YouTube und Periscope zu betreffen. In den vergangenen Monaten wird vor allem Netflix in konservativen Medien kritisiert, weil dort angeblich Inhalte zu sehen sind, „die das LGBT-Verhalten fördern“.

Der Vertreter von Erdogans Partei im RTÜK, Nurullah Öztürk, beteuerte gegenüber der BBC zwar, dass Sender, die auf YouTube oder Periscope einige Stunden senden, von der neuen Regelung nicht betroffen seien. Doch der Text der Anordnung ist dermaßen unspezifisch, dass nicht nur die vom Regime verhassten kritischen Medien in der Türkei wie Medyascope oder T24 bald zum Schweigen gebracht werden könnten, sondern auch internationale Sender. Vor allem wird bereits spekuliert, wie die Kontrolleure von RTÜK mit dem neuen, gemeinsamen YouTube-Kanal der Sender Deutsche Welle, BBC, Voice of America und France24, auf Türkisch 90+, umgehen werden.

Auf Türkisch berichtende beziehungsweise sendende Medien sind in diesem Sommer ohnehin ins Kreuzfeuer des Regimes in Ankara geraten. Die Stiftung für politische, wirtschaftliche und soziale Forschung (Seta), ein regierungstreuer Thinktank, der auch in den USA, in Deutschland und in Ägypten Ableger hat, veröffentlichte Anfang Juli einen Bericht, dessen Titel bereits erahnen lässt, wohin die Reise geht: Die Handlanger internationaler Medienanstalten in der Türkei.

In diesem „Analyse“ wird nicht nur die Berichterstattung der türkischsprachigen Ausgaben und Sendungen der britischen BBC, der deutschen DW, der US-amerikanischen VoA, des französischen France24, des russischen Sputnik und des chinesischen CRI sowie der britische Tageszeitung The Independent beurteilt. Auch das Privatleben einzelner Journalisten in diesen Medien wird analysiert. Sie werden aufgrund ihrer Facebook- oder Twitter-Einträge „bewertet“. Seta behauptet, die Forscher seien so „zu wissenschaftlichen Ergebnissen“ gekommen.

Die genannten Medienanstalten und die meisten der dort beschäftigten Journalisten hätten zum Beispiel in den sozialen Netzwerken „nach Terrorangriffen auf die Türkei weder diese verurteilt noch ihre Trauer bekundet.“ Setas Schlussfolgerung: „Ein bedeutender Teil dieser Medienanstalten, die von sich behaupten, vielfältigen und unabhängigen Journalismus zu betreiben, befinden sich unter den marginalen Türkei-Gegnern.“

Seta „empfiehlt“ den internationalen Medienhäusern dreist, sie sollen ihre Mitarbeitenden überprüfen, die Arbeit der Redaktionen kontrollieren, die amtlichen Erklärungen aus der Türkei mehr Beachtung schenken und keine einseitige Berichterstattung zur Türkei zulassen.

Dabei bleibt zu befürchten, dass das türkische Regime noch nicht sein gesamtes Waffenarsenal und Pulver gegen die Medien verfeuert hat. Und dass es in naher Zukunft weder für die 34 inhaftierten, noch für die noch aktiven Journalisten auch nur einen Schimmer der Hoffnung auf Normalisierung gibt.

Cem Sey
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