Zum ersten Mal seit 17 Jahren verlor der amtierende türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan eine Wahl und bringt damit seine Macht und seine Partei in Gefahr. Der Sieg des Oppositionskandidaten bei der Wiederholung der Istanbuler Bürgermeisterwahl am vergangenen Wochenende führt jedoch nicht automatisch zum Ende des autokratischen Regimes in der Türkei. Ekrem Imamoglu, der Kandidat der Republikanischen Volkspartei (CHP), zog mit der Losung „Alles wird sehr schön!“ erneut in den Wahlkampf. Am Ende gewann er mit 54 Prozent der Stimmen den zweitwichtigsten politischen Posten des Landes.
Dass diese Niederlage für Erdogan zu einem verlorenen Vertrauensvotum geworden ist, ist seine eigene Schuld. Er wollte den knappen Sieg Imamoglus am 31. März bei den landesweiten Kommunalwahlen nicht anerkennen. Stattdessen ließ er seine Gefolgschaft und die Justiz hanebüchene Gründe erfinden, um die Wahl zu annullieren. Er und seine Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung
(AKP) wollten den Verlust ihrer wichtigsten Quelle der Macht nicht hinnehmen: Istanbuls Geldtöpfe sind größer als die der meisten Ministerien. 45 Prozent der gesamten Steuereinnahmen stammen aus der Metropole.
Dafür wurden sie abgestraft. Imamoglu gewann diesmal nicht mehr knapp, sondern mit 800 000 Stimmen Abstand. Sogar viele AKP-Wählende wollten das ungerechte Vorgehen nicht akzeptieren. Die Wahlschlappe wird ernste Konsequenzen für das System Erdogan haben. Noch am Wahlabend brachen selbst in den von Erdogan kontrollierten Medien – fast alle Medien werden von ihm gesteuert – Diskussionen darüber aus, wie sich die AKP erneuern soll. Ein ehemaliger Ministerpräsident Erdogans, Ahmet Davutoglu, werde bald eine neue Partei gründen, hieß es, und eine weitere, unter der Führung des ehemaligen Wirtschaftsministers Ali Babacan, solle im Herbst folgen.
Erdogan versucht, dagegen zu steuern, in dem er Normalität vorgaukelt. Er werde zusammen mit seinem Partner Devlet Bahceli, dem Chef der faschistischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP) auf Kurs bleiben, erklärte er auf Twitter. Tatsächlich gibt es derzeit kein echtes Zeichen dafür, dass sich etwas ändern wird am Erdogan-Regime. Nur zwei Tage nach der Wahl entschied ein Gericht, den Menschenrechtler Osman Kavala in Einzelhaft zu behalten. Ihm wird mittels an den Haaren herbeigezogenen Beweisen ein Putschversuch vorgeworfen – ein durchschaubares Manöver der türkischen Justiz, die Gezi-Proteste im Jahr 2013 nachträglich zu kriminalisieren.
Doch Erdogan kann nicht mehr ungehindert weitermachen, wie bisher. Zwar sind es bis zur nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahl noch mehrere Jahre. Doch seine politische Macht ist angeknackst. Vor allem aber: Erdogan kann nach dieser Wahlschlappe seinen Ton nicht mehr verschärfen. Denn Imamoglu verdankt seinen Sieg insbesondere jungen und neuen Wählenden. Sie wollen den islamistischen Lebensstil, der ihnen vom AKP-Chef aufgezwungen wird, so nicht hinnehmen. Die polarisierende Rhetorik in der türkischen Politik lehnen sie ab. Erdogan kennt und beherrscht jedoch nur diesen Politikstil.
Der Opposition geht es nicht sehr viel besser. Auch sie steht sich selbst im Weg. Es ist fraglich, ob sie die Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen organisieren könnte. Obwohl der Chef der CHP Kemal Kilicdaroglu behauptete, nun sei „alles sehr schön geworden“, ist es auch ihm bewusst, wem sein Kandidat diesen Erfolg verdankt: vor allem den kurdischen Wählenden.
Imamoglu, Kandidat der größeren Oppositionspartei CHP, wurde von allen anderen Oppositionsparteien unterstützt. Iyi Parti, die „Gute Partei“ (eine Abspaltung der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung, MHP, die mit Erdogan koaliert), aber auch die linke Demokratische Partei der Völker (HDP), die im Ausland zumeist als pro-kurdisch bezeichnet wird, verzichteten zugunsten Imamoglus auf eigene Kandidaturen. Selbst die kleine islamistische Glückseligkeitspartei (SP) stellte aus strategischen Überlegungen einen Kandidaten auf, um AKPs Stimmen zu spalten.
Diese heterogene Front hielt während der Istanbuler Bürgermeisterwahl zusammen. Sie ist jedoch nicht in der Lage, nach der Macht zu greifen. Denn allein ist keine dieser Parteien mehrheitsfähig. Deshalb betonte auch der Vizechef der HDP, Sezai Temelli, man müsse nun daran arbeiten, die demokratische Front zu vertiefen. Keine einfache Aufgabe.
Denn während Temellis Partei einen Friedensprozess mit dem kurdischen Guerilla fordert, wirft Iyi Parti der AKP ausgerechnet den gescheiterten Friedensprozess vor. CHP, in deren Reihen faschistoide Elemente genauso wie radikal demokratische Kreise zu finden sind, macht dazwischen einen schmerzhaften Spagat. Ob die CHP, käme sie an die Macht, tatsächlich dazu bereit wäre, wie sie heute offiziell erklärt, das Präsidialsystem wieder rückgängig zu machen, steht ebenfalls in den Sternen. Denn sie hat auch die Zehn-Prozent-Hürde unangetastet gelassen, als sie in den 1990-er Jahren mit an der Macht war. Die Wahlhürde ist ein Erbe der Militärdiktatur der 1980-er Jahre, um Kurden und Linke aus dem Parlament herauszuhalten. CHP, wie alle etablierten Parteien auch, erkennt deren Vorteile für sich. Könnte sie ebenso versucht sein, mit dem für Regierende vorteilhaften Präsidialsystem ähnlich nachlässig umgehen? Denkbar wäre es. Aber ohne eine Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie ist wahrscheinlich keine wirkliche Demokratisierung in der Türkei möglich, wo zig politische, ethnische und religiöse Gruppen existieren.