Theater

Auf der Bühne statt in der Kläranlage

d'Lëtzebuerger Land vom 26.10.2018

Der Theaterabend beginnt schon mal vielversprechend. Auf dem Weg zur Aufführung im De gudde Wëllen gerät linkerhand das Kunstforum Casino in den Blick, dessen neonfarbenen Lettern für eine Ausstellung von Bruno Peinado anagrammatisch umgestellt wurden. Jetzt thront an der Fassade der Schriftzug INCAOS. Es erinnert ein wenig an das Banner mit dem Wort APOKALYPSE, das 2016 anlässlich einer gleichnamigen Aufführung an der Berliner Volksbühne prangte. Damals spielte der deutsche Schauspieler Wolfram Koch die Hauptrolle, der auch an diesem Premierenabend in Luxemburg auf der Bühne stehen wird.

Hat sich also der Geist des berüchtigten deutschen Theaters hier breitgemacht? Übernehmen die „wüsten Gewaltfantasien“ und das „ganz zittrig nervöse Leuchten“ (Robin Detje), für die die Volksbühne so gelobt und gehasst wurde, das Ruder? Der Abend im Gudde Wëllen wird es zeigen. Dort wird die erste Aufführung der neu gegründeten „Volleksbühn“ gezeigt. Das Kollektiv (Anne Simon, Tom Dockal, Jacques Schiltz, Anouk Wagener) bezeichnet sich selbst als „Reflexiounsbud“, ihr Auftrag besteht laut ihrer Homepage darin, „eine Gegenstimme zur aktuellen Theaterszene zu entwerfen“ und eine künstlerische Freiheit abseits institutioneller Abläufe auszuleben.

Aber wie beginnt man so ein Projekt? Mit dem Regisseur Jacques Schiltz, der den Regisseur Jacques mimt und der immer lauter „Licht!“ schreit. Sein Schauspieler Wolfram Koch, gemimt von, naja, Wolfram Koch, halt ist doof oder taub oder beides, jedenfalls kommt er erst nach viel Hin und Her auf die Bühne gestakst, um den wichtigsten Satz der Soirée zu intonieren: „Ech sinn ee Stéck Schäiss.“ Er trägt ein halbes Plüsch-Ballett-Outfit in rosa, kombiniert mit einer schwarzen Ganzkörperleggings und Flossen – und wirkt damit so fehl am Platz wie ein Taucher an Land, ein Flamingo in der Arktis, ein Schauspieler auf der luxemburgischen Bühne.

Die Probe ist zur Aufführung geworden, die Übung zum Ernstfall. Plötzlich taucht Anouk, die vermeintliche Autorin des Stücks auf, gespielt von Anouk Wagener. Die identitäre Schleife ist vollends eingerichtet, und im Folgenden nährt sich die Handlung aus der Rachsucht und dem Gekränkt-Sein der Stückeschreiberin, die es satthat, immerzu das Ziel von Lästerei und Verleumdung zu sein. Um es Wolfram heimzuzahlen, der sie als Flittchen und miserable Künstlerin verunglimpft hat, schreibt sie ihm also ein Stück auf dessen hinterfotzigen Leib. Und er soll ohne den Schutz der figürlichen Maske das sagen, was er nun einmal ist: „ee Stéck Schäiss“.

Zwischen Gag und Ernst Spätestens an dieser Stelle wird klar, wieso sich die Volleksbühn zu einer Adaption von Die Lügen der Papageien von Andreas Marber entschlossen hat. Das Stück hält ein doppeltes Angebot bereit: Der Groll auf die Theaterszene garantiert erst einmal viel Klamauk und Clownerie. Das TNL wird als „rabbeleg Schmëtt“ abgekanzelt, die Kulturseiten des Luxemburger Wort werden als Un-Feuilleton beschrieben. Die ad-hominem-Flüche gegen Claude Frisoni, Tom Leick und Frank Hoffmann lassen wir an dieser Stelle mal dezent aus, schließlich gibt es auf diesen Seiten nicht den künstlerischen Bonus der Bühne.

Zugleich erlaubt das Stück eine Reflexion über das Medium Theater, und ja, auch über dessen Krise: Drehen sich die Akteure in Selbstliebe und Fremdhass nicht viel zu sehr um sich selbst? („Ech wäert iwwer all Mënsch, dee mir blöd kënnt, ee Stéck schreiwen!“) Welchem Auftrag kommen die Künstler und Künstlerinnen noch nach? Und wer schaut sich das in diesem gottverdammten Luxemburg überhaupt an? Die initiale Aufführung der Volleksbühn bewirbt sich mit einer überaus spaßigen, zugleich hellsichtigen Inszenierung, mit einem im besten Sinne ironischen Stück, „das sich unaufhörlich selber widerspricht, ohne sich zu vernichten“ (Ludwig Tieck). Es wird Theater dargeboten, das sich selbst an den Rand drängt, uns werden Schauspieler vorgesetzt, denen ihre Rollen abhandengekommen sind, eine Institution offenbart sich, die sich grundsätzlich in Frage stellt.

Die Regie hat indes die Balance zu halten gewusst zwischen Gag und Ernst. Die grandiose Suada gegen den Betrieb ist kein Selbstläufer, die institu­tionskritische Botschaft wird nicht ständig in stolzer Selbstgeißlung hochgehalten. Glänzend auch, wie Wolfram Koch den glanzlosen Hanswurst-Schauspieler mimt, ist doch wenig schwieriger, als Inkompetenz kompetent darzustellen. Über Kulissenbild, Ton, Licht und Kostüme lässt sich darüber hinaus wenig sagen, sie sind ja nahezu inexistent. Wenn’s denn sein muss, lässt sich neben Wolframs Outfit das Olymp-Hemd des adretten Regisseurs Jacques als besonders authentisch hervorheben.

Endlich mal: eine artistische Reflexion Das neu gegründete Kollektiv legt dem Publikum eine Abrechnung und Verweigerung vor, eine kleine Kapitulation, zugleich eine große Entgegnung. Und darüber erarbeitet es sich einen optimalen Startpunkt, um weiter zu denken, zu spielen und um sich zu schlagen. Anders als die Richtung ­22-Truppe, die Theater vorranging als Plattform für politische Pointen und kaum als ästhetisches Labor nutzt, setzt die Volleksbühn dabei endlich mal dezidiert auf artistisch waghalsige Reflexion.

Einen vielversprechenderen Auftakt für diese Initia­tive hätte man sich also kaum vorstellen können. Nach siebzig Minuten Tralala, Blabla und dem ernsten Rest dazwischen hat man beim Applaus den Eindruck, dass hier etwas zu sich gefunden hat – wie die Faust aufs Auge, wie „ee Stéck Schäiss“ auf die Luxemburger Bühne. Mal schauen, wen oder was das Quartett für sein zweites Projekt dort hinaufhievt. Vielleicht wird in den folgenden Produk­tionen der Verweis auf die Berliner Volksbühne dann nicht nur ein Gruß an den viel größeren Bruder sein, sondern – hoffen wir’s! – auch eine programmatische und poetische Weiterführung.

Produktioun Nr. 1, nach Die Lügen der Papageien von Andreas Marber, ins Luxemburgische von Anouk Wagener und Jacques Schiltz; Regie: Tom Dockal; mit: Wolfram Koch, Jacques Schiltz und Anouk Wagener; eine Produktion der Volleksbühn asbl; zwei weitere Vorstellungen im Gudde Wellen heute Abend, 26. Oktober, um 20 und 21:30 Uhr, sowie später im Kulturhaus Niederanven;
https://volleksbuehn.lu

Samuel Hamen
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