Gratiszeitungen

Die besseren Sudoko

d'Lëtzebuerger Land vom 10.04.2008

Dass ein Minister zurücktreten muss, weil er einer Stripteasetänzerin erotische SMS schickte, wie vergangene Woche in Finnland, ist eine Nachricht, für die Gratiszeitungen gemacht sind, wenn sie nicht für Gratiszeitungen gemacht ist. Aber auch junge Frauen aus Kalifornien, welche die Unterhaltungs­industrie hauptberuflich mit Beziehungs- und Alkoholproblemen versorgen, füllen vorzugsweise die Klatschspalten in den Blechkästen an Bahnhofsvorplätzen.

Nachdem der schwedische Metro-Verlag den Luxemburger Markt für eine Gratiszeitung bereits vor einem Jahrzehnt sondiert hatte und auch das Angebot von RTL an Saint-Paul und Editpress, eine Gratiszeitung herauszugeben, erfolglos geblieben war, werden seit einem halben Jahr zwei kostenlose Tageszeitungen angeboten. Am 10. Oktober 2007 erschien L’Essentiel, herausgegeben von Editpress und dem Schweizer Verlag Tamedia. Das Blatt in französischer Sprache richtet sich vor allem an Grenzpendler und Jugendliche. Im Kampf um die Anzeigenaufträge konterte am 30. November 2007 der konkurrierende Sankt-Paulus-Verlags mit Point 24. Es ist zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrhundert, dass hierzulande wieder kostenlose Tageszeitungen herauskommen. Die erste Gratiszeitung, Le Gratis luxembourgeois, war am 1. Januar 1857 erschienen.

Wer Bus oder Zug fährt, merkt, dass es ein Interesse an den neuen Zeitungen gibt. Viele Berufstätige und Schüler schnappen sich beim Umsteigen eine oder gleich beide Zeitungen, die meist im Abstand von einem Meter ausliegen. Es ist beiden Blättern gelungen, innerhalb vergleichsweise kurzer Zeit die Logistik für die aufwändige und kostspielige Verteilung zu organisieren. Dazu gehören nicht nur die Aushandlung der Genehmigungen für das Aufstellen von Verteilerkästen an öffentlichen Orten, in Bussen, Schulen, Tankstellen, Fast-food-Restaurants sowie die Produktion und Aufstellung von Hunderten von Kästen, sondern auch die tägliche Belieferung all dieser Verteiler.

Nach eigenen Angaben wurde L’Essen­tiel Ende Februar in einer Auflage von 71 000 Exemplaren gedruckt und in 830 Kästen im Großherzogtum verteilt. Point 24 wird nach eigenen Angaben an 270 Stellen im Land und bereits ab 22 Uhr in 20 hauptstädtischen Bars verteilt. L’Essentiel beschäftigt 30 Angestellte, davon 15 Journalisten, und scheint sich höhere Anlaufverluste leisten zu wollen; sie legt ihr Produkt auch massiver aus und lässt die Zeitung häufiger in Werbeaktionen von Hand verteilen. 

Einer von L’Essentiel in Auftrag gegebene Umfrage bei 498 Einwohnern des Großherzogtums ergab, dass 21,4 Prozent von ihnen angaben, L’Essentiel gelesen zu haben, so dessen Pressenmitteilung vom 27. Februar. Von den 15- bis 34-Jährigen hatten 37,1 Prozent L’Essentiel und 15,3 Prozent Point 24 gelesen. Allerdings wurde bei der Umfrage eine der Hauptkundschaften der Gratiszeitungen, die Grenzpendler, nicht erfasst. Laut derselben Umfrage lasen 27,1 Prozent der L’Essentiel-Leser und 2,7 Prozent der Point 24-Leser keine andere Tageszeitung.

In einem Diskussionsforum der Internetfirma Facebook beschäftigten sich 20 Teilnehmer in den vergangenen Monaten mit der Frage: „Point 24 oder L’Essentiel??“. Für France Clarinval ist Point 24 „eine Light-Version von La Voix“. Sébastien Philippe stört sich am Format von Point 24 und findet die People-Seiten „pathetisch“. Für Sven Clement gibt es keine größeren inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden Blättern, aber ihm gefällt das Design von L’Essentiel? besser. Jennifer Lang und Nadine Scharzt entscheiden sich ohne Angabe von Gründen für Point 24. Doriane Hardy, Matt Repapos, Diane Hoffelt, Guillaume Guichard und Chrostophe Oberlé ziehen dagegen L’Essentiel? vor. Yves Gobber liest beide, findet aber L’Essentiel? kompakter und besser. Mucky Nicolay plädiert für L’Essentiel?, es sei handlicher, auch seine Sudoku- und Worduku-Rätsel seien besser, insbesondere „für langweilige Schulstunden“. Am Konkurrenzblatt Point 24 stört Nicolay vor allem, dass diese Zeitung „noch mehr Anzeigen als L’Essentiel? hat“…

Diesen Kritiken zufolge leidet Point 24 unter derselben Tragik wie das Luxemburger Wort: Die Rotationsmaschine der Sankt-Paulus-Druckerei druckt das große Norddeutsche Format des „alten“ Luxemburger Worts. Die Halbierung des Formats als einziger technisch möglicher Weg zur Verringerung des Formats führt dazu, dass eine seriöse Zeitung, wie das Luxemburger Wort, zu klein, und eine Gratiszeitung, wie Point 24, zu groß wird.L’Essentiel hält sich enger an die im Ausland erprobte Form der Gratiszeitung und scheint damit größeren Erfolg zu haben. Als katholisches Massenkommunikationsmedium ziert sich Point 24 mehr bei der Abbildung junger Frauen im Bikini. Im Internet-Diskussionsforum Luxforum wird mehrfach beanstandet, dass die beiden Zeitungen auf Französisch seien und sich eigentlich gar nicht an eine luxemburgische Leserschaft richteten.

Doch auch wenn die Gratistageszeitungen Erfolg bei ihrer Zielleserschaft haben, bleibt der Erfolg bei den Anzeigen bisher aus. L’Essentiel und Point 24, welche Anzeigen vom Luxemburger Wort übernimmt, haben beide nur wenige bezahlte Anzeigen. Dies ist um so bedrohlicher, als sie, anders als die restlichen Tageszeitungen, die aus dem Verkauf, der Werbung und der Pressehilfe finanziert werden, keine andere Einnahmequellen haben.

Ein anderes Problem der beiden Gratistageszeitungen ist, dass sie zu einem großen Teil dieselbe Leserschaft und dieselben Anzeigenkunden visieren wie die ebenfalls von Editpress und Saint-Paul herausgegebenen fran­zösischsprachigen Tageszeitungen Le Quotidien und La Voix, die jeweils für 1,10 Euro verkauft werden. Ob Letztere der kostenlosen Konkurrenz aus den eigenen Häusern wohl lange widerstehen können?

Romain Hilgert
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