ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Politische Folklore

d'Lëtzebuerger Land vom 12.11.2021

Seit Monaten streiten die politischen Parteien um eine Volksbefragung über die Verfassungsrevision. 2018 waren alle dafür. 2019 waren fast alle dagegen. Freudig sprang die ADR in die Bresche. Die CSV und die Piraten liefen der ADR hinterher. Die einen befürchten, dass die Revision an einem Referendum scheitert. Die anderen hoffen, dass die Regierung an einem Referendum scheitert.

Volksbefragungen fanden bisher nur ausnahmsweise statt. Um keine Zweifel am stellvertretenden Parlamentarismus aufkommen zu lassen. Sie wurden abgehalten, wenn dieser technisch an seine Grenzen stieß. Oder wenn die ökonomisch und politisch Herrschenden ihre Hegemonie bekräftigt haben wollten. Schon die Fragestellung sollte den Wahlausgang beeinflussen, für die Monarchie, für das Kommunistenverbot, für den freien und unverfälschten Wettbewerb, für das Ausländerwahlrecht… Die bei einer Volksbefragung unterlegenen Beherrschten akzeptierten die Entscheide. Sie glaubten, nicht den Herrschenden, sondern einer Mehrheit ihresgleichen unterlegen zu sein.

Die bäuerliche Wählerschaft in den Landgemeinden wählte meist konservativ: 1919 stimmte sie zu 80 und 90 Prozent für Großherzogin Charlotte, 1937 für das Maulkorbgesetz und 2015 am resolutesten gegen das Ausländerwahlrecht. 2005 war sie für den Europäischen Verfassungsvertrag und Agrarhilfen. So wie sie 1919 für den Wirtschaftsanschluss an Frankreich war. Dagegen hatten die Winzer aus Sorge um den Absatz und die Konkurrenz eine Wirtschaftsunion mit Belgien bevorzugt.

Die Arbeiterinnen und kleinen Angestellten stimmten meist gegen die Absichten der konservativen Regierungen. Sie wählten 1919 im Kanton Esch und in den Vororten der Hauptstadt die Republik. Obwohl die Sozialistische Partei zur Enthaltung aufgerufen hatte. Im Erzbecken wählten sie eine Wirtschaftsunion mit dem republikanischen Frankreich, seinen Gruben und Schmelzen jenseits der Grenze. Sie lehnten 1937 das Maulkorbgesetz ab und 2005 von Petingen bis Kayl die Verfassung der rücksichtslosen Europäischen Union. 2015 lehnten sie mit den Wahlrechtsreformen die Austeritätspolitik der liberalen Regierung ab.

Das Bürgertum war oft gespalten: Der aufgeklärte Teil stimmte gegen die Absichten der konservativen Regierungen; konservative Unternehmer, Geschäftsleute und Beamte stimmten für sie. In der Frage der Wirtschaftsunion stimmte die einen 1919 frankophil, die anderen aus wirtschaftlichen Überlegungen für Belgien. Ein Teil des liberalen, städtischen Bürgertums wollte lieber eine Republik als eine Ersatzgroßherzogin. 1937 brachte es im Bündnis mit der Arbeiterschaft das Maulkorbgesetz zu Fall. 2005 stimmte es als Globalisierungsgewinner für den Europäischen Verfassungsvertrag. Seit 2013 regiert das liberale Bürgertum. Seine Wählerschaft unterstützte 2015 im Zentrum die Wahlrechtsreformen. Das konservative Bürgertum half, die Reformen zu verhindern.

Die nun etappenweise verabschiedete Modernisierung der Verfassung ist ein Parteienkompromiss. Das versprochene Referendum sollte nie das Für und Wider der 132 Artikel abwägen. Es sollte als Ratifizierung eines neuen, demokratischen Pakts zwischen den Herrschenden und den Beherrschten inszeniert werden. Um die Hegemonie Ersterer zu bekräftigen. Falls die Zeiten postdemokratischer werden.

Ein Teil der Leute begrüßt an einem Verfassungsreferendum das Prinzip. Der Inhalt interessiert sie weniger. Denn die Änderungen sind geringfügig. Sie haben nichts mit dem Leben der Leute zu tun. Sie gelten als Steckenpferd von Verfassungsrechtlern. Umso mehr weckte die Revision die Leidenschaft von Tierschützerinnen, Sprachsäuberern und Impfgegnerinnen. Sie rufen am lautesten nach einem Referendum. Die besitzenden Klassen wollen nichts mehr davon wissen. Die Bekräftigung ihrer Hegemonie versänke in der politischen Folklore. Die Revision liefe Gefahr, durchzufallen.

Romain Hilgert
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