Erdäpfel

Kartoffeltragödie

d'Lëtzebuerger Land vom 16.09.2011

Heute loben wir den klassischen Erdapfel. Weit entfernt von der [-]gastronomischen Klassik operieren die sogenannten Molekularköche. Schwer zu sagen, was diese Hochseilakrobaten der exklusiven Beköstigung mit der Kartoffel anstellen. Ihre Beziehung zur schönen Frucht scheint jedenfalls weder von Liebe noch von besonderem Einfühlungsvermögen geprägt zu sein. Hier geht es eher um die Herrschaft des Meisters über sein wehrloses Objekt. Die Kartoffel ist diesen raffinierten Spielern nur mehr ein Vorwand. Sie dekonstruieren, demontieren, demolieren, zerpulvern und zerstäuben, bis die Kartoffel so gründlich kollabiert, dass sie sich nicht einmal mehr zu zigarettenpapierdünnen Puffern verarbeiten lässt.

Warum zum Teufel vergreifen sich diese Kartoffelpeiniger an den verlockendsten Patatten? Ihre Küchen gleichen auf den ersten Blick dem Laboratorium eines Chemikers, bevölkert von munteren Zauberern, die mit ihren Stoffen und Essenzen allerlei Unfug treiben. In ihren Augen ist eine Kartoffel nur dazu da, um konsequent ihrer Kartoffeleigenschaften beraubt zu werden. Das generelle Koch-Motto lautet: Ich mach dich fertig, Knolle! Entsprechend sieht dann das zum Verzehr bestimmte Resultat aus. Kein Mensch würde hinter den krausen Scheibchen, den Fädchen und Splittern, den Kügelchen und Säften, dem blauen Brei und dem lila Kompott eine ehemalige Kartoffel vermuten. Haha!, lacht da der Chemiker. Er ist ein geübter Verblüffungsartist. Die Kartoffel an sich ist ihm schnuppe.

Allerdings frage ich mich, ob der Vergleich nicht ein bisschen hinkt. Denn der Chemiker treibt die Sache ja zielstrebig zum Punkt, wo es kracht und zischt. Er freut sich höllisch, wenn er eine Kartoffel soweit verwandelt hat, dass ihre kläglichen Reste auf dem Gaumen des Feinschmeckers explodieren und mit exotischen Geräuschen die Kehle runterrumpeln. Dem Chemiker genügt der Knalleffekt. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, wieso der Molekularkoch grundsätzlich der Kartoffel den Garaus macht. Wieso lässt er sie nicht einfach Kartoffel sein? Warum zertrümmert er beharrlich ihre Textur, statt sie zu wahren und zu unterstreichen?

Da wäre ein plausibler Verdacht: die Molekularküche ist eine verkappte Unterabteilung der modernen Medizin. Diese Köche sind in Wirklichkeit fehlgeschlagene Chirurgen, die jede Kartoffel betrachten wie einen maroden Patienten. Also wird aufgeschnitten, ausgehöhlt, gefräst, als müsse ein faules Organ beseitigt werden. Die kerngesunde Kartoffel wird ratzfatz kompostiert, als sei sie seit ewig dazu bestimmt, unter den Händen eines Küchenlazarettleiters zu verenden. Merkwürdiger Weise betrachten es die Molekularköche als ihre höchste Leistung, eine derart zerstörte Kartoffel wieder so herzurichten, dass sie genau an ihre ursprüngliche Form erinnert. Hier sind wird dann endgültig auf dem Gebiet der ästhetischen Chirurgie gelandet. Der Kartoffel wird zuerst alles ausgetrieben, was noch nach einer Kartoffel aussieht, dann wird sie in langwierigster Kleinstarbeit wieder zusammengeflickt, um als täuschende Imitation ihrer selbst auf dem Teller zu landen. Natürlich hat dieses Gericht plötzlich einen sündhaft hohen Preis. Der Gourmet bezahlt sozusagen die horrenden Kosten der Reanimation. Er sollte also gewarnt sein: jeder betritt das Spital namens Molekularrestaurant auf eigenes Risiko.

Ein gastronomisch versierter Freund schickt mir regelmäßig seine Fotoreportagen aus molekular verbrämten Gourmettempeln. Das häufige Betrachten dieser höchst kunstvoll geschichteten Ex-Lebensmittel führt zu einer neuen Fertigkeit: schon nach drei bis vier Lieferungen dieser sechs-, zehn-, fünfzehn- oder zwanziggängigen Minimalkreationen kann man perfekt mit den Augen essen. Das virtuelle Futtern stellt sich ganz von selbst ein. Es schmeckt vorzüglich und ist radikal billig. Nachher reibt man sich zufrieden den Bauch und dankt dem Meister für seine schmackhaften Bilder. So stelle ich mir die blühende Zukunft der Molekularküche vor: die kunstvolle Speisung per Internet, die Download-Gastronomie par excellence. Man sollte sich nur hüten, unbeherrscht am Bildschirm zu lecken. Das kann zu elektrischen Spannungen führen, die sich verheerend auf die Magenschleimhäute auswirken.

Falls unter all den filigranen Gebilden auf den zahllosen Tellerchen mal eine Kartoffel auftaucht, so nur als Phantom ihrer selbst. Als posthumes Abbild sozusagen, als Schaum oder Schäumchen, oder als ein kaum spürbarer Hauch, der sich nicht mal zuverlässig pixeln lässt. Dann ist höchste Zeit, eine ganz reale Groumper aus der heimischen Groumperekëscht zu fischen, sie voller Zuwendung mit einem echten, artisanalen Knäip zu schälen, sie zärtlich und behutsam mit bestem Olivenöl zu bepinseln und sie mitfühlend ins Backrohr zu schieben. Dort reift sie langsam heran zur goldgelben Köstlichkeit. Sie wird sich nicht verflüchtigen. Man könnte sich vor ihrer natürlichen Pracht verneigen. Pschitt!, macht da der Molekularkoch. Und schwingt dem cream whipper.

Guy Rewenig
© 2024 d’Lëtzebuerger Land