Vorurteile

Extremismus

d'Lëtzebuerger Land vom 09.09.2010

Die schönste Genugtuung unter allen Vorurteilen verschaffen diejenigen anderer Leute. Deshalb ließ sich in den letzten Tagen kaum ein aufgeklärter Geist die Gelegenheit entgehen, am Beispiel einer Ceps-Publikation die Vorurteile des gemeinen Mannes zu bedauern und damit noch einmal die eigene moralische Überlegenheit über denselben vorzuführen. Das staatliche Sozialforschungsinstitut in Differdingen hatte in einem Arbeitspapier Ergebnisse einer Meinungsumfrage für die Europäische Wertestudie über die Einstellung und Solidarität gegenüber Nachbarn veröffentlicht.

Bei allen Vorbehalten gegen Meinungsumfragen über Vorurteile, die schon in ihrer Fragestellung meist nur der Spiegel plattester akademischer, sozialer und politischer Vorurteile und Moden sind, und gegen die Wertestudie und den daran klebenden konservativen Wertediskurs ist das Ergebnis wenig überraschend. Ein Siebtel der Bevölkerung gibt zu, lieber keine Leute als Nachbarn zu haben, die sozial oder kulturell anders sind als sie selbst. Ein Drittel will lieber keine Vorbestraften nebenan wohnen haben und um die Hälfte keine Drogenabhängigen und Alkoholiker. Auch dass die Tendenz seit der Wertestudie vor zehn Jahren zunahm, war vor dem aktuellen politischen und gesellschaftlichen Hintergrund eher vorhersehbar. Denn die wachsenden ökonomischen Unterschiede, die rechte Sicherheits- und Sauberkeitshysterie in den Städten, der akademisch aufgeblähte Identitätswahn, der weltweite Religionskrieg gegen den Islam, die liberale Verherrlichung des Konkurrenzkampfs und der öko-alternative Randgruppentribalismus betonen alle die Andersartigkeit der Menschen und schüren das Misstrauen zwischen ihnen. Nach einer von der CSV hofierten Bewegung gegen den 700 000-Einwohnerstaat Anfang des Jahrzehnts wurde die offene Benachteiligung von Grenzpendlern soeben Regierungspolitik.

Bemerkenswert ist vor allem, dass es in Luxemburg anscheinend eine extrem hohe Ablehnung politischer Extremisten als Nachbarn gibt. Die Hälfte der Befragten wollte keine Rechtsextremisten und mehr als ein Drittel keine Linksextremisten neben sich wohnen haben (nach dem Extremismus der Mitte waren sie nicht befragt worden). Das ist umso erstaunlicher, als die letzte rechtsextreme Splitterguppe vor 20 Jahren kandidiert hatte, Trotzkisten und Maoisten hatten sich schon vorher im Alkohol aufgelöst. Bei den Kammerwahlen vor einem Jahr kamen KPL und déi Lénk landesweit nicht einmal auf fünf Prozent der Stimmen, und der sehr diskrete und manierliche Linkssozialist André Hoffmann zählt über alle Parteigrenzen hinweg zu den angesehendsten Abgeordneten des Parlaments.

Politischer Extremismus ist also beim besten Willen hierzulande kein empirisch verifizierbares Phänomen. Abgesehen davon, dass schwerlich nachvollziehbar ist, wie sich die politische Gesinnung eines Nachbarn erraten lässt, wenn dieser nicht gerade in SS-Uniform den Rasen mäht. Und doch fürchten anscheinend ebenso viele Befragte die Nachbarschaft von politischen Extremisten wie diejenige von Drogenabhängigen und Alkoholikern. Selbstverständlich ist die Jagd auf den Extremismus vor allem eine historisch erklärbare deutsche Eigenart, die es in dieser Form in anderen europäischen Ländern weniger gibt. Deshalb zeigt die weit verbreitete Angst vor einem Gespenst, das es hierzulande nicht einmal als Gespenst gibt, auch den Einfluss ausländischer Medien auf das Weltbild der Luxemburger. Dass aber zwanzig Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs noch immer mehr Befragte lieber einen Vorbestraften als Nachbarn haben als einen politischen Extremisten, illustriert vielleicht, wie erfolgreich die politische Formatierung der Bürger im CSV-Staat ist.

Romain Hilgert
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