In Kinderheimen haben auch Nonnen ihre Schutz­befohlenen gequält

Gottes Hand

d'Lëtzebuerger Land vom 01.07.2010

Im Winter kommt der Housécker. Mit der Rute und bös verzerrter Fratze droht er den Kindern, schlägt sie, steckt sie in seinen dunklen, groben Sack und wirft sie die Treppe hinab. Die Szene, die Claire* Nacht für Nacht den Schlaf raubt, ist heute ein Alptraum. Früher war sie Wirklichkeit.

Weil ihre Mutter verschwunden war und ihr Vater sich nicht kümmern wollte, kommt Claire schon als Baby „op d’Rhum“. Im dortigen Kinderheim gab es damals, es war 1954, eine pouponnière, in der viele uneheliche und verlassene Kinder unterkamen. Ein paar Jahre später wechselte sie in das angegliederte Heim nach Munsbach. Was von außen wie ein Märchenschloss aussieht, war für die kleinen Bewohner oft die Hölle auf Erden. „Einmal hat mich die Joffer gepackt, auf einen hölzernen Tisch gelegt und mir mit der Klobürste, an der noch ein Nagel war, den nackten Hintern blutig geschlagen“, erinnert sich Claire. Ein anderes Mal musste sie zusammen mit anderen Kindern auf den weißen, spitzen Kieselsteinen stundenlang im Hof „straf“-knien. „Hier“, sagt sie, „die hab ich davon“, und sie zieht die Hosenbeine hoch und zeigt auf zwei tiefe Narben auf ihrem linken Knie. „Es war der Horror“, fügt sie hinzu und die Wut ist ihr deutlich anzumerken.

Schon bei nichtigen Anlässen hätten die Schwestern zugeschlagen: zu lautes Spielen, ungenügende Schulnoten, die kleinste Widerrede. Wer etwa nicht essen wollte, was auf den Tisch kam, wurde mit Kopfschlägen dazu gezwungen, sogar eigenes Erbrochenes hinterzuwürgen. „Bis heute kann ich keine Sülze mehr sehen“, schüttelt es Claire. Eine Lehrerin und eine der Nonnen hätten sich mit besonders sadistischen Ritualen hervorgetan. Der strafende Housécker gehörte dazu, aber auch unwürdige Hygienekontrollen. Zum Nikolaus mussten sich alle Mädchen in einer Reihe aufstellen, die Unterhose ausziehen und sie den als Kleeschen und Housécker verkleideten Betreuerinnen zur Kontrolle vorzeigen. Genügte sie den hygienischen Ansprüchen nicht, gab es vor versammelter Mädchenschar Prügel „mam Bengel“. Ebenfalls beliebt: systematisches Heruntermachen mit Sprüchen wie „Du kënns och an de Prisong!“ oder „Aus dir gëtt och näischt, du bass wi deng Mamm!“ oder „Dir sidd engem Zigeiner aus der Hëft gefale!“.

„Ich wusste, dass viele Kinder Schlimmes erlebt haben, aber mit diesem Ausmaß habe ich nicht gerechnet“, sagt Mill Majerus, der beim Gespräch dabei sitzt, um Claire zu unterstützen. Seine Betroffenheit ist echt. Doch seine Überraschung überrascht. „Wann’s de dech net gëss, kenns d’op d’Rhum.“ Die Drohung mit den Prügel-Nonnen, wer hatte sie als Kind nicht gehört? Gerüchte über exzessive Strafmaßnahmen im Rhamhospiz in Luxemburg-Stadt kursierten schon vor Jahrzehnten. Ernsthaft nachgegangen wurde ihnen nie. Als im vergangenen Jahr die staatlichen Heime ihr 125-jähriges Bestehen feierten, sind die dunklen Kapitel in der Jugendfürsorge kein Thema. In einem Dokumentarfilm schildern Heimkinder, wie sie von ihren Betreuern unterstützt werden. Auch Zeugen aus den 60-er und 70-er Jahren kommen zu Wort. Das drakonische, willkürliche Strafregime taucht nur in einer kleinen Randbemerkung auf. Der Interviewer hakt lieber nicht nach.

Unter der Überschrift „Frauen über Frauen“ brachte die Zeitschrift Revue im Jahr 1976 einen Erfahrungsbericht eines ehemaligen Heimkindes. Daraufhin fasste sich auch Claire ein Herz und schrieb an die Lesertribüne in dicht gedrängten Buchstaben: „Ich muss auch ein schwarzes Schaf gewesen sein, dass man mich wegen jeder Kleinigkeit verprügelt hat.“. Und: „Bis heute bereue ich, nicht den Mut gehabt zu haben, abzuhauen und dem Herrn Direktor vom Rhamhospice alles zu erzählen.“ Die Angst vorm Erwischt- und Verprügeltwerden war größer.

Inzwischen hat die 55-Jährige den Mut gefunden. Als sie im Radio von der Kirchenhotline erfährt, greift sie zum Telefon. An der anderen Seite meldet sich das Bistum. „Da war ich schon erstaunt“, erzählt sie. Gegenüber dem Leiter der Kontaktstelle, Mill Majerus, spricht sie erstmalig ausführlich über all die Demütigungen und Gewalt, die sie über Jahre hat ertragen müssen. Und sie ist nicht die einzige. Aus Munsbach haben sich noch zwei weitere Frauen gemeldet. Ihre Berichte ähneln sich. 124 Frauen und Männer haben sich bei der Hotline seit ihrem Start Anfang April gemeldet. 33 davon waren selbst Opfer oder Zeugen von sexuellen Misshandlungen durch Ordensleute oder ältere Jugendliche in sozialpädagogischen Einrichtungen, 47 der Gemeldeten wurden Opfer oder Zeugen von körperlichen Übergriffen, die „von mehr oder minder brutalen Schlägen bis hin zu schlimmen Misshandlungen in Heimen“ reichten, so die Juni-Zwischenbilanz der Hotline.

Daraus nun zu schließen, Missbrauch und Misshandlung wären ein rein katholisches Problem, ist allerdings falsch. Auch für Luxemburg gilt die traurige Regel, dass sexueller Missbrauch und Gewalt gegen Kinder mehrheitlich in der Familie geschieht, durch den Vater, den Onkel oder die Mutter. Was die Gewalttaten in kirchlichen und anderen Institutionen (das Rhamhospiz wurde verstaatlicht) nicht schmälern soll. „Heime waren lange Zeit totalitäre Strukturen“, gibt der Familienpsychologe Gilbert Pregno zu bedenken. Abgeschottet hinter Mauern, von ihren Eltern getrennt und oft ohne andere Bezugspersonen, waren „die Kinder abhängig und ihren Erziehern ausgeliefert“. Eine Macht, die zu Missbrauch einlädt und die allzu oft Erwachsene ausgenutzt wird, die nicht professionell mit ihr umzugehen wissen oder es auch gar nicht wollen.

Das Versagen der Jugendfürsorge in den Nachkriegsjahren ist besonders augenfällig. Als in Deutschland der Runde Tisch zusammenkommt, um die Heimerziehung in der Bundesrepublik in den 1950- und 60-er Jahren unter die Lupe zu nehmen, zeichnet die  Untersuchungskommission ein erschreckendes Bild: Sowohl in katholischen als auch in evangelischen Heimen wurden Kinder systematisch gedemütigt und geschlagen. Von Zwangsarbeit und Missbrauch ist im Zwischenbericht die Rede, aber auch von überfordertem und schlecht ausgebildetem Personal. Auch im Rhamhospiz kamen auf über 50 Mädchen und Jungen zwei bis vier Schwestern. „Was keine Entschuldigung für die Gewalt ist“, unterstreicht Majerus. Aber wie kann es sein, dass im Namen göttlicher Liebe Kinder, die der Obhut von Nonnen und Erzieherinnen anvertraut waren, systematisch Schmerzen zugefügt wurden? Wo waren die zuständigen Behörden, die das über Jahrzehnte von Nonnen geführte Heim kontrollieren sollten?

Wo blieb der Aufschrei, als erste Berichte in den 70-er Jahren über die Schreckensherrschaft in den Heimen in den Medien auftauchten? Und was macht die Familienministerin damit, dass nun immer mehr Heimkinder nicht länger schweigen wollen? Eine Anfrage des Land blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet. Anders als in Deutschland, wo die 68-er Studenten die desolate Lage der Heimkinder, viele davon aus Arbeiterfamilien, kritisierten und wo mit dem vom Bundestag 2008 beschlossenen Runden Tisch eine Debatte über die Verantwortung der Kirche und ihr verkorkstes Verständnis von Autorität, Erziehung und Sexualität für das Versagen der Jugendfürsorge begonnen hat (die von Heimkindern wegen ihrer Institutionenlastigkeit allerdings kritisiert wird), steht die Aufarbeitung hier zu Lande noch ganz am Anfang.

Wenn es überhaupt dazu kommt. Denn bisher dringt wenig aus der Hotline nach außen und halten sich die Heime mit eigenen Nachforschungen und Stellungnahmen über ihre dunklen Kapitel tunlichst zurück. Als das Land die Kongregation der Elisabethanerinnen, auch heutzutage für mehrere Kinderheime verantwortlich, um eine Stellungnahme bittet, verweigert die zuständige Schwester zunächst jede Zusammenarbeit mit der Presse. Dann soll es doch möglich sein, wenigstens die selbst geschriebene hauseigene Chronik einzusehen. Am Abend vor dem verabredeten Treffen erfolgt der Rückzieher – per Anwaltschreiben. Man wolle abwarten, bis die Hotline am 15. Juli ihre Ermittlungen beendet habe: „Tant que ces investigations n’auront pas été terminées, la Congrégation n’est pas en mesure d’en tirer de quelconques conclusions et enseignements et par voie de conséquence elle se trouve dans l’impossibilité de pouvoir prendre en connaissance de cause position à l’égard de faits allégués à l’adresse de personnes nommément citées ou non, appartenant ou ayant appartenu à sa communauté.“

Im Anschluss an die 125-Jahr-Feier der staatlichen Heime 2009 melden sich Ehemalige beim Direktor René Schmit mit der Bitte, eine Plattform für Betroffene einzurichten. Schmit lehnt ab. Man sei dazu bereit, aber nicht alleine, erklärt Schmit dem Land, der das Aufarbeiten der Vergangenheit „nicht unnütz“ findet, schon „wegen der Sozialgeschichte“. Aktive Aufklärung sieht anders aus, die Sorge um das eigene Image scheint weiterhin übermächtig. Lieber überlässt man es der Hotline, die Betroffenen hinter geschlossenen Türen anzuhören. Die Einrichtungen bleiben im Hintergrund. Dabei verhindert nichts, selbst in den Archiven nachzuschauen oder bei Mitarbeitern und früheren Insassen nachzuforschen.

Als die Leitung der Kongregation von Claires Leidensgeschichte erfährt, schickt sie einen Brief. „Wir möchten sagen, dass der Bericht uns in hohem Maße betroffen macht. Es tut uns leid, wenn Sie im Umfeld der Kirche schlimmes Unrecht erfahren haben.“ Spätestens im Oktober, wenn die Kontaktstelle ihren Abschlussbericht vorstellt, werde man darauf zurückkommen. Ob der Kontaktstellenleiter das gemeint hat, als er „individuelle und kollektive Entschuldigungen“ als mögliche Folgen seiner Arbeit ankündigte? Es gibt Pläne, die Uni mit der wissenschaftlichen Untersuchung der Heimfürsorge zu befassen. Ob diese sich dann auf die 50-er und 60-er Jahre beschränken wird? Heimleiter bestätigen gegenüber dem Land, es habe noch „bis weit in die 80-er hinein, Übergriffe gegeben“.

„Das ist doch ein Witz“, ärgert sich Claire. Ihr reicht das Entschuldigungsschreiben nicht. Leider gibt es in Luxemburg keine Initiative ehemaliger Heimkinder, die Entschädigungen, Rentennachzahlungen oder Schmerzensgeld für psychische und physische Folgeschäden  fordert. Die „Association de défense des intérêts des victimes d’abus sexuels ou pyhsiques de l’église catholique“, die Ende April ihre eigene Hotline startete, ist trotz wiederholter Versuche telefonisch nicht zu erreichen. Deren Präsident, Romain Heusburg, hat seinen Leidensweg in Lëtzebuerg Privat geschildert. In den Berichten geht es um massivste Prügelstrafen im ebenfalls von Nonnen geführten Betzdorfer Kinderheim. Der schlimmste Vorwurf: Nonnen sollen luxemburgische Heimkinder sogar an belgische Sexhändler ausgeliehen haben. Allerdings ist das Blatt nicht eben für seriösen Journalismus bekannt; Mitglieder der Kongregation sprechen intern von Rufmord.

So bleibt den Betroffenen als Fürsprecherin ausgerechnet die Kontaktstelle der katholischen Kirche, was viele gar nicht einmal stört. „Dort hört mir endlich jemand zu“, lobt Claire. Wie viele sich nicht melden, weil sie nichts mit dem Bistum mehr zu tun haben wollen, ist unklar. Die Kirchenleitung hat jedenfalls versprochen, alle Dossiers uneingeschränkt an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. Wie heikel die Konstruktion aus rechtsstaatlicher Sicht gleichwohl ist, zeigen die jüngsten Vorfälle in Belgien. Belgische Ermittler durchsuchten dort die Räume der kirchlich geleiteten Untersuchungskommission. Für die Kirche ein Schock, aber auch für die Opfer, die nun fürchten, ihre vertraulichen Angaben könnten publik werden.

Für Claire ist der Schritt an die Öffentlichkeit nur folgerichtig. „Das darf sich auf keinen Fall wiederholen. Ich vertrage es nicht, wenn Kinder geschlagen werden“, sagt die frühpensionierte Bankangestellte weinend, die heute allein mit ihren drei Hunden weit weg von Munsbach wohnt und sich ehrenamtlich für Kinder in Afrika engagiert. Eine vom Bistum angebotene Therapie hat sie abgebrochen: Die hölzerne Treppe im Haus des Psychologen erinnerte sie zu sehr ans Kinderheim: „Ich habe danach tagelang geweint.“

Heute hat Claire nur noch einen Wunsch, wenn es um Wiedergutmachung für all das Leid geht: Der Staat könnte ein paar Bastel- oder Nähkurse organisieren, sagt sie nach kurzem Überlegen. Dann wäre sie zumindest nicht mehr so allein. Vor allem nicht zu Weihnachten, wenn der Housécker wiederkommt.

* Name ist der Redaktion bekannt
Ines Kurschat
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