ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Der erste Stein

d'Lëtzebuerger Land du 05.11.2021

Vergangene Woche verbreitete die Internetseite reporter.lu, dass der 26-jährige Xavier Bettel seine Diplomarbeit an der Universität Nancy grob gefälscht hatte. Die politischen Parteien rätselten, was ihre Anhängerinnen von ihnen erwarteten: Entrüstung wegen Diebstahls geistigen Eigentums? Verständnis, weil Knäipen ein Schulsport ist?

In der DP war man kaum überrascht. Die Liberalen kennen ihren Bettel als Leichtfuß mit eingeschränkter Konzentrationsfähigkeit. Aktenwälzen ist ihm fremd. Heute har er Beamte dafür. Zur Zeit seines Abschlusses hatte er alle Hände voll zu tun als Partygänger und Nachwuchspolitiker. Parteipräsidentin Corinne Cahen schwieg.

Die Universität Luxemburg dient der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Gegen ihren Präsidenten Yves Elsen wird wegen Steuerbetrugs ermittelt. Akademische Standards zu verteidigen kommt Hochschulminister Claude Meisch nicht in den Sinn. Er schwieg.

Die Grünen lieben moralinsaure Besserwisserei. Wie in Deutschland, wo Minister wegen Plagiaten zurücktreten müssen. Andererseits wollen die Grünen in der Regierung bleiben. Dazu brauchen sie eine Regierung und einen Regierungschef. Parteipräsidentin Djuna Bernard sprach ihm das Vertrauen aus.

Die LSAP beschloss, dass eine Privatangelegenheit des Premiers vorliege. Sie ließ das Telefon klingeln. Ihre Parteiführung besteht aus Rechtsanwälten und verbeamteten Akademikerinnen. Gewählt wird die LSAP am meisten in jenen Gemeinden, wo die wenigsten Akademiker wohnen. Ihr Fußvolk hält Fußnoten für Haarspalterei von Bildungsprivilegierten.

Die meisten Leute haben weder geistiges noch nennenswert sonstiges Eigentum. Deshalb empört ein Plagiat sie wenig. Sie sind eher amüsiert, wenn sich jemand erwischen lässt. Die Parteien glauben, dass gefälschte Diplomarbeiten als Jugendsünden durchgehen. Sie wollen keine Journalisten ermutigen, ihre Nase in weitere Arbeiten zu stecken. Alle zögern, den ersten Stein zu werfen. Solange Bettels DEA nicht dem Ruf des Finanzplatzes schadet.

Die CSV-Fraktionssprecherin und Ex-Schuldirektorin Martine Hansen wollte den Premier nicht verurteilen. Sie wollte erst einmal abwarten. Sie verurteilt lieber den ehemaligen CSV-Präsidenten. CSV-Premier Jean-Claude Juncker glaubte, lügen zu müssen, wenn es brenzlig wird. Er verlas im März 2007 am Institut de France eine zusammengeklaubte Dankesrede über Léopold Sédar Senghor.

Die ADR beging mit der Valissen-Affär eine der haarsträubendsten politischen Fälschungen. Fernand Kartheiser hatte in Montpellier 614 Seiten über Luxemburg im Koreakrieg geschrieben. Er gestand Bettels 56 Seiten die Unschuldsvermutung zu. Er wollte erst einmal abwarten. Er lässt sich nicht von seinem Verfassungsreferendum ablenken. Auch die ADR wird in jenen Gemeinden am besten gewählt, wo die wenigsten Akademiker wohnen.

Für déi Lénk lavierte die Abgeordnete Nathalie Oberweis: Bettels Glaubwürdigkeit sei beschädigt, aber aus einer Zeit, als er noch nicht Regierungschef war. Der ehemalige CSV-Abgeordnete Marcel Oberweis war mit seinen Zeitungsbeiträgen aufgefallen.

Der Remicher Gemeinderat Daniel Frères von der Piratenpartei wurde wegen Vertrauensmissbrauchs verurteilt. Sein Kollege Sven Clement warf dem Premier vor, gelogen und betrogen zu haben. Die Piratenpartei war nach dem Verbot der Schwarzmarktbörse Pirate Bay gegründet worden. Oberstes Ziel war die Abschaffung des geistigen Eigentums. Xavier Bettel entpuppt sich als ihr Pionier.

Wer Gedanken zu Waren macht, nennt sie „propriété intellectuelle“. Dieser wird Respekt gezollt, wenn sie der Steuerersparnis dient. Diplomarbeiten sind keine Patent box. Sie sind Sprossen der Karriereleiter mittlerer bis höherer Angestellter und Beamtinnen. „Wissensgesellschaft“ war nur so ein Dummwort der Lissabon-Strategie. Es sollte die Arbeitskraft auf Trab bringen.

Romain Hilgert
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