Die Kleine Zeitzeugin

Die Natur ist mir zu natürlich

d'Lëtzebuerger Land vom 04.08.2023

Bei uns gibt es keine Bären. Bei uns gibt es keine Wölfe. Mein Vater war sich da ganz sicher, und er wusste alles. Selbst die Dinosaurier waren zuvorkommenderweise ausgestorben. Nichts würde einer also geschehen auf den schier endlosen Fußmärschen, Fousstueren nannten das die Eltern, bei denen wir uns von Krüppeleiche zu Krüppeleiche schleppten; das Abenteuerlichste, das einer zustieß, war, dass man sich am lauwarmen Thermoskannentee verschluckte oder die Ameiseninfanterie beim Picknick aufmarschierte. Sogar die tollwütigen Füchsinnen schwänzten. Theoretisch gab es Wildschweine, und vielleicht waren die Pilze, die aus dem Humus, wichtiges Wort, emporschossen, tödlich, aber keiner wollte es wirklich wissen. Es gab keine Thriller. Nur Geschichten über Lohhecken und Leder. Gerben. Todlangweilig. So, wie Kindheit sein soll.

Keine Killerin on the road. Keine schäumenden Lefzen, keine Pranken, Tatzen, Reiß- und Beißzähne, und weder kleine Mädchen noch Großmütter wurden en passant verputzt, Meister Isegrimm gab es einfach nicht mehr. Wie praktisch. Wie toll.

Und Gevatter Bär nur in gruseligen Ländern ohne Autopedestre. Oder in der Micky Maus, wo er, immer kam er von hinten angetrabt, seine Pranke auf die schmächtigen Schultern von Donald oder Micky plumpsen ließ. Und immer ließ er sich von einem Honigtopf becircen, den Donald oder Micky in der Natur professionell griffbereit hatten. Kein Camping ohne Honigtopf.

Wer Bärin in Luxemburg guggelt, landet derzeit zwar noch im Fruchtgummiparadies in der Großgasse. Aber dafür ist eine andere „spannende Tierart“, wie die Biber-in-Luxemburg-Broschüre schreibt, schon vor Ort. Wer je diesen zumindest Tri-Athlet/innen zuschaute, wie sie olympionikenhaft Flüsse durchpflügen, Kapriolen in der Strömung schlagen, nur mit Zähnen bewaffnet Bäume fällen, zäh Wohnanlagen, gar Burgen errichten, hat nicht die geringste Lust, das Plantschbecken mit diesen Besessenen zu teilen. Es könnte, so ein Aktions- und Managementplan, Konflikte mit menschlichen Interessen geben.

Sie sind also wieder da, unsere vierbeinigen Brüder und Schwestern, die mit den vielen Zähnen und Klauen! Migrantinnen und Remigrierte, Expats, die neu angesiedelt werden in ihrer schön aufgeräumten neuen alten Heimat. Warum eigentlich, wer hat sie vermisst? Eben war es so übersichtlich im Wald, die asthenischen Fichtenstämme, die Borkenkäfer, der autistische Specht, ein Häschen oder zwei, dass wir entzückt aufschreien, leise schreien. Und Geraschel durch Herbstlaub, unbedingt. Nur Mini-Morde, im Humus. Das reicht doch, muss es noch natürlicher sein?

Dann sollen wir auch noch willkommenskultiviert sein. Ja, manchmal sind sie etwas anstrengend. Sie kommen unangemeldet. Sie lustwandeln durch ein Dorf, als sei das Paradies ausgebrochen. Gerade wurde eine Wölfin in einer Fußgängerzone gesichtet. Eine Löwin wandelt durch Berlin, jetzt ist sie ein Wildschwein.

Manchmal haben sie sich nicht so unter Kontrolle. Sind etwas triebhaft. Wenn sie gerad Hunger oder Kleine haben. Oder beides. Oder sonst was. Oder nichts. Manchmal greifen sie zu. Beißen sie zu. Aber nur manchmal. Und meist nur die Lämmchen. Die Schäfchen. Die gerad zur Selbstbedienung in der Landschaft rumstehen. Die Unschuldsvermutung gilt zwar auch. Und sowieso, es ist eben Natur. Natur ist so. Die tierliebenden Urbanen haben da ein bisschen ein falsches Bild. Auf dem blutet es nie. Es ist kein Schlachtbild. Aber dem ist es eben nicht so. Manchmal erwischt es einen Jogger. Sie haben einen Jogger erwischt. Oder eine Wandererin, warum wandert sie auch so? Durch so Olivenwälder, durch so ein Griechenland? Wahrscheinlich hat sie sich falsch benommen, Natur ist Natur. Man muss der Natur nur eine Chance geben. Und dann haben wir eben keine. So geht Natur. Wir können ja auch lernen, Kommunikation ist alles. Zum Beispiel den Wolfs-Knigge. Die Don’ts und die Musts. Den Wolf im Blick behalten, aber den Augenkontakt meiden. Mit den Armen wedeln ist auch super. Kreuzt Bärin auf, dem Bärinnen-Kodex folgen. Bloß nicht auf Bäume hechten, das hat sie auch drauf. Und die zwei bloß nicht miteinander verwechseln!

Das muss doch machbar sein.

Michèle Thoma
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