Ein Amt am Rande des Nervenzusammenbruchs hätte man vor einigen Monaten über die Gerichtshilfe sagen können

Aufräumkommando

d'Lëtzebuerger Land vom 03.02.2017

Wer den Service central d’assistance sociale (Scas) in der Rue Joseph Junck am Hauptbahnhof in Luxemburg-Stadt besucht, muss zunächst eine Sicherheitsschleuse passieren. Dann geht es nach oben in helle freundliche Räume, in denen ein Duft von Zitronen und frischem Holz liegt. Das Büro von Scas-Direktorin Marie-Claude Boulanger gibt den Blick über graue Hinterhöfe des Bahnhofsviertels frei.

„Ich habe mit den Abteilungen Rücksprache gehalten und begonnen, Änderungen einzubringen, noch ehe das Audit begonnen hatte. Sodass verschiedene Dinge umgesetzt waren, bevor die Kontrolleure kamen“, berichtet die Direktorin offen über die Herausforderungen, die sich ihr stellen. Vergangene Woche war sie im parlamentarischen Justizausschuss, um Abgeordneten Rede und Antwort über das Audit zum Scas zu stehen, das vor rund anderthalb Jahren vom Justizministerium in Auftrag gegeben und von der Unternehmensberatungsfirma Resultance S.A. zwischen den Monaten Juni und November 2016 durchgeführt wurde. Der 118-seitige Abschlussbericht, den das Lëtzebuerger Land einsehen konnte, hat es in sich.

Das war nicht anders zu erwarten. Nachdem der frühere Direktor Roger Zigrand wegen Krankheit ausgeschieden war, war die Gerichtshilfe ein Jahr lang praktisch führungslos gewesen. Sachbearbeiter waren völlig überlastet, es häuften sich Klagen von Klienten und den Gerichten, dass Fälle zu spät oder gar nicht bearbeitet wurden. Unzufriedene Mitarbeiter verließen die Verwaltung, weil sie unter den chaotischen Bedingungen nicht länger arbeiten wollten. So gravierend waren die Mängel, dass Justizminister Félix Braz (Déi Gréng) sich nach einem Besuch vor rund anderthalb Jahren entschied, die Situation im Scas mit einem externen Audit genauer unter die Lupe zu nehmen. Dessen Ergebnisse liegen nun vor.

Sie zeichnen das Bild eines Amts, das mit erheblichen strukturellen Problemen zu kämpfen hat (und dies seit vielen Jahren), um deren Lösung die neue Leitung aber bemüht ist. Seit ihrer Gründung im Jahr 1977 ist die Gerichtshilfe von einem bescheidenen Team von 20 Mitarbeitern auf ein Amt mit über 70 Beamten und derzeit vier inhaltlichen Abteilungen angewachsen: Jugendschutz, die Bewährungshilfe, die Vormundschaften und die Opferhilfe. Mehrere Tausend Fälle, darunter schutzbedürftige Kinder und Familien mit erheblichen psycho-sozialen Problemen, Haftentlassene in der Bewährung, hilfsbedürftige Menschen, die unter Vormundschaft stehen, sowie Opfer von Verbrechen werden von derzeit 73 Sozialassistenten, Psychologen, Kriminologen und Soziologen betreut – das ist beim besten Willen zu wenig, um eine fachgerechte Betreuung zu gewährleisten.

Der Personalmangel ist nicht das einzige Problem: Unklare Prozeduren und Zuständigkeiten, Arbeiten unter Stress und mit vielen Notfällen, zu viel Autonomie einerseits und fehlende Anweisungen und Supervision andererseits führten dazu, dass Fälle vorgezogen, andere dafür unbearbeitet blieben oder sogar vergessen wurden. In der Abteilung Jugendschutz, Bereich Enquêtes, etwa waren es zum Zeitpunkt des Audits über 370 Akten, die noch bearbeitet werden mussten (untersucht wurde der Zeitraum 2012 bis Juni 2016). Mit gegebenem Personalschlüssel würde es rund zwei Jahre brauchen, um den Rückstand abzubauen, so die Kontrolleure. Bei den Erziehungs-Assistenzen betreute bis vor kurzem ein Sachbearbeiter durchschnittlich 117 Kinder, darunter solche, die durch Gewalt, Drogen oder Missbrauch traumatisiert sind. Der Arbeitsumfang droht in Zukunft noch zu steigen, denn mit der Jugendschutzreform soll der Betreuungsschlüssel im Scas auf das Niveau der Jugendhilfe angehoben werden.

In der Bewährungshilfe geht es darum, verurteilten Straftätern nach der Haft beim Weg zurück in die Gesellschaft zu helfen. Die Scas-Mitarbeiter kontrollieren, ob Klienten Gerichtsauflagen einhalten, sie unterstützen sie bei der Arbeitsplatz- oder Wohnungssuche. Die Zahl der zu betreuenden Straftäter sank zwischen 2013 und 2015 zwar; 2015 waren es 2 142 Einzelpersonen. Ein Bewährungshelfer hat laut Audit aber durchschnittlich nur 16 Stunden, um seine Klienten zu betreuen, obwohl eigentlich 20 Stunden pro Klient vorgesehen sind. Das Justizministerium plant mit der Strafvollzugsreform die Resozialisierung zu verbessern. Das wird nur gehen, wenn die Bewährungshilfe personell verstärkt wird.

Bei den Vormundschaften wuchs die Arbeitsbelastung in den vergangenen Jahren spürbar, weil seit 2009 die Vormundschaften von Minderjährigen hinzugekommen sind. Auch hier stellten die Kontrolleure einen Überhang von 224 unbearbeiteten Fällen fest. Inzwischen konnte der Aktenberg aber merklich abgetragen werden, auch dank Unterstützung des Vormundschaftsgerichts.

Besser sieht es bei der Opferhilfe aus. Da blieb der Betreuungsumfang mit etwa 230 Klienten pro Jahr relativ stabil. Wegen der unterschiedlichen Bedürfnisse der Klienten fiel es den Kontrolleuren schwer, eine durchschnittliche Bearbeitungszeit zu bestimmen. Sie bemängelten jedoch Unregelmäßigkeiten bei der Vergabepraxis von finanziellen Hilfen, die nicht einheitlich geregelt war. Mit der neuen Direktorin wurden diese und andere beanstandete Defizite behoben, beziehungsweise sie sind dabei, behoben zu werden. Inzwischen gibt es verbindliche Prozeduren und Verfahrensweisen, auch Zuständigkeiten wurden neu verteilt.

Eines aber wird die Direktorin bei allem Elan und Eifer so schnell nicht ändern können: Die Personalnot wird dem Amt auch in Zukunft einiges abverlangen, erfahrenes Personal wird dringend gesucht. Der Scas ist nicht der einzige Dienst im Sozialwesen, der händeringend qualifiziertes Fachpersonal sucht, wie die Stellenanzeigen von Maisons relais, Jugendhäusern und Schulen zeigen.

Internen Berechnungen des Audits und der Personalabteilung zufolge müssten insgesamt neun Psychologen, Kriminologen oder Soziologen, sowie 22 Sozialarbeiter eingestellt werden, um den Rückstand aufzuholen. Um die noch nicht verabschiedeten Reformen im Bereich des Jugendschutzes, im Strafvollzug und im Familienrecht umzusetzen, wären zusätzlich sechs weitere Psychologen und 20 Sozialassistenten nötig. Ein Brief mit dem bezifferten Personalbedarf wurde der Regierung kürzlich zugeschickt. Justizminister Félix Braz hatte in einem Interview mit Radio 100,7 20 Stellen für die kommenden Jahre in Aussicht gestellt.

Dann stellt sich womöglich die Strukturfrage ebenfalls erneut. Denn auch wenn die neue Direktion Mitarbeiter, Gerichte, Staatsanwaltschaft und Ministerium hinter sich hat: Eine Person allein um eine Verwaltung von mehr als 80 Mitarbeitern zu führen, könnte auf Dauer zu neuen Spannungen, Arbeitsüberlastung und Verfügbarkeitsproblemen führen, warnt das Audit vorsorglich.

Ines Kurschat
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