Koalitionsverhandlungen

Alle Pfaffen sind gefressen

Etienne Schneider (LSAP), Corinne Cahen (DP), Félix Braz (Déi Gréng) und Xavier Bettel (DP) nach der ersten Koalitionsrunde
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d'Lëtzebuerger Land vom 19.10.2018

Auf Xavier Bettels Schoß Wie schon 2013 zeichnete sich am Wahlabend während der Elefantenrunde bei RTL Télé ab, welche Koali­tion es geben würde. Zentimeter um Zentimeter rückten LSAP-Spitzenkandidat Etienne Schneider und Felix Braz, Spitzenkandidat der Grünen im Süden, jeweils ein Stückchen nach rechts, immer näher zu Xavier Bettel (DP). Hätte die RTL-Regie Moderatorin Caroline Mart nicht erlaubt, aus der Runde zurück ins Nachrich­­­­t­enstudio zu übergeben, und die Sendung noch fünf Minuten länger gedauert, hätten Schneider und Braz sie wahrscheinlich auf Bettels Schoß beendet. Dass Bettel, der alle Fäden in der Hand hielt, die Stimme versagte als er sich endlich äußern und Stellung beziehen sollte, war mehr als symbolisch für seine inhaltslose und aussagenfreie Kampagne.

Doch Braz hatte seine Karten überraschend gut gespielt, indem er erstens klar gemacht hatte, eine Regierung ohne die grünen Wahlgewinner komme nicht in Frage, was zweitens nach sich zog, dass die blau-rot-grüne Koalition weitermachen würde. Er schuf Fakten und so blieb CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler nichts Anderes übrig, als den Dreien von der anderen Seite des Studios abwechselnd fassungslose und wütende Blicke zuzuwerfen.

Weil die CSV die Wahlen diesmal eindeutig verloren hat, ist die Situation nicht ganz mit 2013 zu vergleichen. Diesmal scheinen DP, LSAP und Grüne sehr darauf bedacht, nicht von vornherein das halbe Land gegen sich aufzubringen. So ließen sie dem Großherzog großmütig die Chance, ein wenig Staatschef zu spielen. Als er am Montag darauf bestand, einen Informateur zu nennen, statt Xavier Bettel zum Formateur zu machen, erklärte der ausgehende und sehr wahrscheinlich nächste Premier, der „Anstand“ gebiete das, machte dem Großherzog aber gleichzeitig Dampf, er wolle nicht als „lahme Ente“ zum Brexit-Gipfel nach Brüssel fahren. Weil es der Anstand gebot, fügte Bettel hinzu, er habe außerdem keinen Auftrag seiner Partei für Koalitionsgespräche mit LSAP und Grünen, obwohl die DP keine Stunde später genau diesen Auftrag erteilte. Einstimmig – einen Charles Goerens etwa, der dagegen protestiert hätte, Gespräche mit der CSV auszuschließen, gibt es in den Reihen der DP nicht mehr.

Rote, blaue und grüne Linien So wie sich die Delegationen von DP, LSAP und Déi Gréng am Mittwoch bei ihrem ersten Gesprächstermin im Kulturministerium herzten, drückten und küssten, gibt es wenig Zweifel daran, dass sie die roten, blauen und grünen Linien, die während der Wahlkampagne gezogen wurden, überwinden werden. Zumal Xavier Bettel der CSV ausrichten ließ, sie solle ihre Probleme gefälligst selbst lösen. Die roten Linien automatischer Index, Renten und Mindestlohnerhöhung, werden kaum Probleme darstellen. Denn die DP hat in Sachen Index seit 2013 eine Kehrtwende eingelegt und versprach in ihrem Wahlprogramm „am Index fest[zu]halten“. Die Grünen hatten den Index in ihrem Programm zwar völlig ignoriert. Doch vom OGBL aufgefordert, stellte Parteipräsident Christian Kmiotek schießlich auf Twitter klar: „Fir déi Gréng ass sonnekloer: mir ginn net un den Index fréckelen. Dont acte.“ Irgendwie wird es den Koalitionären wohl auch gelingen, die von der LSAP verlangte Nettoerhöhung des Mindestlohns um 100 Euro mit ein bisschen Index hier, ein paar Steuerermäßigungen da zu bewerkstelligen. Denn wenn die DP auch verspricht, die Auswirkungen jeder Anpassung auf die Wirtschaft zu prüfen, bekannte sie sich in ihrem Programm dennoch zur gesetzlichen Mindestlohnanpassung, und Déi Gréng versprachen „den Mindestlohn [zu] erhöhen“. Große Lust auf eine einschneidende Rentenreform zeigte keine der Parteien. Die DP sieht laut Programm „im Moment keine Probleme für die Zukunft des Systems“, stellte fest, dass die Reserven angestiegen sind, und meinte, Anpassungen könnten vorgenommen werden, „wenn es sein muss“. Die Grünen kündigten an, „die Finanzierung des öffentlichen Rentensystems absichern“ zu wollen, „beispielsweise indem (...) Beiträge zur Finanzierung der Renten auch auf Kapitaleinkommen erhoben werden“. Diese Idee dürfte der DP zwar weniger gefallen, käme sie doch einer zusätzlichen Besteuerung gleich, während die Liberalen „Steuererleichterungen für die Bürger“ wollen. Doch da dies keine zentrale Grünen-Forderung ist, dürften auch die Renten kein Hindernis für ein Koalitionsabkommen werden, das die Zustimmung eines LSAP-Kongresses findet.

Als No go hatte Xavier Bettel die LSAP-Forderung nach einer 38-Stunden Woche bei unverändertem Lohn bezeichnet, sowie den Grünen-Vorschlag, Grundstückseigentümer schneller zu enteignen, wenn sie den Bau wichtiger öffentlicher Infrastrukturen behindern. Doch im Vorfeld der Wahlen hatte Etienne Schneider bereits Möglichkeiten umrissen, wie LSAP und DP bei fortschreitender Digitalisierung der Arbeitswelt und steuerlicher Kompensation für die Betriebe einen Kompromiss finden könnten. So zeichnet sich auch ab, wie die unterschiedlichen Ansichten über die von der DP geforderten Steuersenkungen für Unternehmen, ausgebügelt werden könnten. Das Wirtschaftskapitel im Wahlprogramm der Grünen war ohnehin so substanzlos ausgefallen, dass es einem Versprechen an künftige Koalitionspartner gleichkam, sich aus solchen Angelegenheiten herauszuhalten, solange sie nur weiter Umweltschutz betreiben und Fahrradwege planen dürften.

Dass die knappe Mehrheit von 31 Sitzen im Laufe der Legislaturperiode zum Problem werden könnte, falls der eine oder andere Abgeordnete mit den gefundenen Kompromissen nicht einverstanden wäre, scheint eher unwahrscheinlich. Denn in der vergangenen Legislaturperiode hielt die Koalitionsdisziplin bei 32 Sitzen erstaunlich gut. Gegen das Sparpaket lehnte sich kein Sozialist auf, obwohl es vorhersehbarer Maßen in diesem Umfang überflüssig war. Das einzige Mal, als zwei Mehrheitsabgeordnete aus lokalen Interessen heraus einer Abstimmung fernblieben, half die Opposition, den Gesetzentwurf durchs Parlament zu bringen.

Ablauf und Planung Bei ihrem ersten Treffen einigten sich die drei Parteien am Mittwoch auf den Ablauf der Verhandlungen. Xavier Bettel will bei den Gesprächen die Rolle des Moderators einnehmen. Deswegen führt Parteipräsidentin Corinne Cahen die DP-Delegation, der außerdem Pierre Gramegna, Claude Meisch, Lydie Polfer, Claude Lamberty, Fernand Etgen und Marc Hansen angehören. Neben Etienne Schneider nehmen Fraktionschef Alex Bodry, Parteipräsident Claude Haagen, Dan Kersch und die LSAP-Spitzenkandidaten aus den anderen Wahlbezirken, Romain Schneider und Nicolas Schmit, an den Verhandlungen teil. Jean Asselborn ist als geschäftsführender Außenminister unterwegs und hat seinen Platz für die einzige LSAP-Vertreterin am Tisch, Taina Bofferding, geräumt. Obwohl das Wahlergebnis suggeriert, dass die Neuauflage der Koalition eigentlich Bettel-Dieschbourg-Schneider heißen müsste, leitet statt der ehemaligen Umweltministerin Felix Braz die grüne Delegation, der außer den beiden François Bausch, Sam Tanson, Josée Lorsché, Claude Turmes und Parteipräsident Christian Kmiotek angehören.

Formateur Xavier Bettel will diesmal nicht nur die Verwaltungen Bericht erstatten lassen, sondern auch die Sozialpartner zu Gesprächen einladen. In elf Arbeitsgruppen von drei bis vier Leuten sollen unterschiedliche Themenbereiche abgearbeitet werden, wobei zu erwarten ist, dass der ehemalige Finanzminister, Pierre Gramegna, die Gruppe der Staatsfinanzen leitet, der ehemalige Wirtschaftsminister die Arbeitsgruppe Wirtschaft, ... Bei der Einteilung der Themenfelder fällt ins Auge, dass die Landwirtschaft zusammen mit dem Umweltschutz diskutiert wird, der Wohnungsbau mit den Gemeinden, Erziehung, Bildung und Sport zusammen mit der Kultur. Diese Aufteilung soll einer späteren Ressortaufteilung nicht vorgreifen, wie das Land aus dem Kreis der Unterhändler erfuhr. Wer wie viele Ministerposten bekommt, wer den EU-Kommissar, an dem möglicherweise neben dem immer zum Absprung bereiten Nicolas Schmit auch der ehemalige Europa-Abgeordnete Claude Turmes oder Pierre Gramegna interessiert sein könnten, der für den Posten der Eurogruppen-Vorsitzenden kandidiert hatte, ist nach Land-Informationen noch nicht diskutiert worden. Das verhindert nicht, dass die Parteien nicht eifrig dabei wären, einen neuen Proporz zu kalkulieren, der einerseits dem Wahlsieg der Grünen Rechnung trägt, und andererseits berücksichtigt, dass die LSAP zwar drei Sitze verloren, aber am Stimmenanteil gemessen, immer noch einen kleinen Vorsprung auf die DP hat.

Weiter lüften? Abgesehen von zwei Terminen nächste Woche und einem Mitte November, gab Bettel am Mittwoch keinen genauen Zeitplan bekannt. Doch als letzten Termin für die Regierungsbildung, haben die drei Parteien laut Land-Information Weihnachten im Blick. So bleiben ihnen etwas mehr als zwei Monate Zeit, um herauszufinden, was sie eigentlich machen wollen. Vor fünf Jahren war die moderne Koalition angetreten, um den CSV-Staat zu lüften. Sie haben die Ehe für alle eingeführt, das Scheidungsgesetz reformiert und Kirche und Staat getrennt. Nun sind alle Pfaffen gefressen, und es ist 2018 weitaus weniger offensichtlich, wofür die blau-rot-grüne Koalition stehen soll, außer gegen die CSV. Doch die ist inzwischen so entzaubert und geschwächt, dass sie als Feindbild, das fünf Jahre Zusammenhalt garantiert, nicht mehr wirklich taugt. Damit sie in fünf Jahren etwas vorzuweisen haben, wären die Koalitionäre gut beraten, klare Prioritäten zu setzen, beispielsweise Wohnungsnot lösen vor Cannabis legalisieren.

Michèle Sinner
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