Dschungel Die Erwartungen waren hoch an CSV-Premierminister Luc Friedens erste Rede zur Lage der Nation. Was nicht nur am Regierungswechsel lag, sondern auch daran, dass er sie zwei Tage nach der Europawahl hielt, was die Oppositionsparteien im Vorfeld zu der Annahme verleitete, die Ansprache beinhalte Ankündigungen, die den Regierungsparteien im EU-Wahlkampf schaden könnten. Diese Befürchtung sollte sich allerdings nicht bestätigen. Friedens Rede zur Lage der Nation ist die logische und konsequente Fortsetzung des Koalitionsabkommens und der Regierungserklärung, die er Ende November vortrug. Die konkreten Maßnahmen, die er am Dienstagnachmittag in der Abgeordnetenkammer ankündigte, reihen sich ein in den Ansatz, den die Regierung seit Beginn der Koalitionsverhandlungen verfolgt.
Das Kernstück der Rede zur Lage der Nation bildet die simplification administrative, die sich durch alle Bereiche zieht. Silence vaut accord, once only, digital first, compensation une fois pour toutes sollen den Bau von Wohnungen und Betriebsgründungen beschleunigen, die Beantragung von Armenhilfe erleichtern. „Mir wëlle Schluss maache mam administrativen Dschungel“, sagte der Premierminister, damit die Hilfen „bei deene ukommen déi se brauchen“.
Im Wohnungsbau meinte er mit „deenen“ vor allem die privaten Bauherren, die künftig mit öffentlicher Unterstützung erschwinglichen Wohnraum schaffen sollen. Public-Private-Partnership hatte Wohnungsbauminister Claude Meisch (DP) die staatlichen Subventionen für die Baubranche im März genannt. Drei Pilotprojekte sind geplant: Wohnungen, die private Bauherren errichten, soll der Staat künftig „zu engem Präis ënnert dem Marché mee iwwert dem ‚loyer abordable’“ für 20 Jahre mieten und sie zu erschwinglichen Preisen weitervermieten. Der Staat bezahlt den Promoteuren 20 Jahre lang die Differenz und erhält dafür nach Ablauf der Frist ein Vorkaufsrecht. Nach dem gleichen Modell sollen Betriebe (gemeint sind wohl vor allem die Big Four) künftig auch Wohnungen für ihre Beschäftigten bauen dürfen. Wie das dritte Pilotprojekt funktionieren soll, ist noch unklar: Der Privatsektor soll auf öffentlichen Grundstücken erschwinglichen Wohnraum bauen, der „dono un déi ëffentlech Promoteure fält“. Eigentlich baut der Privatsektor schon seit 100 Jahren Wohnungen im Auftrag der SNHBM und seit 1979 für den Fonds du Logement. Was daran neu sein soll, ist nicht bekannt; vielleicht, dass die Promoteuren die Wohnungen nun auch selbst planen dürfen. In den nächsten Wochen will die Regierung im parlamentarischen Wohnungsbauausschuss Details zu diesen Pilotprojekten präsentieren.
Die Oppositionsparteien LSAP, Grüne, Piraten und déi Lénk werteten diese Maßnahmen als Geschenk an die großen Baupromotoren, die ihre hohen Profite der letzten zehn Jahre nun noch weiter steigern könnten. Sven Clement (Piraten) mutmaßte sarkastisch, dass die Vorschläge CSV und DP wohl auf Marc Giorgettis Vorwahlparty in Monnerich auf einer Serviette ausgehändigt worden seien. Den von Frieden verkündeten „Paradigmen- a Mentalitéitswiessel“ sah die linke Opposition nicht nur „an de Logementsprozeduren“, sondern vor allem in der Art und Weise, wie CSV und DP den erschwinglichen Wohnungsbau dem freien Markt überlassen, nachdem Claude Meischs grüne Vorgänger/innen Sam Tanson und Henri Kox sich darum bemüht hatten, den Bestand an erschwinglichem Wohnraum, der dauerhaft in öffentlichem Besitz bleibt, substanziell zu erhöhen. Damit sollte auch dem rasanten Anstieg der Wohnungspreise – insbesondere der Mietpreise – entgegengewirkt werden. Ob dieser Effekt nun wegfällt, bleibt abzuwarten. Denn sollten die Zinsen wieder sinken, die Banken wieder mehr Immobilienkredite vergeben und das Vefa-Verkaufsmodell wieder in Schwung kommen, könnte „de Privatsecteur“ schnell keine Zeit mehr haben oder die Lust daran verlieren, erschwingliche Wohnungen zu entwerfen und zu bauen.
Bei der Armutsbekämpfung sind bislang keine Pilotprojekte geplant, zumindest noch keine, denn der „Aktiounsplang géint d’Aarmut“ von DP-Familienminister Max Hahn steckt noch in den Vorarbeiten, wie Luc Frieden am Dienstag erläuterte. Erst einmal soll mit administrativer Vereinfachung dafür gesorgt werden, dass die Hilfen bei denen ankommen, die sie benötigen. Die Hilfen automatisch an sie zu überweisen, ohne dass sie Anträge stellen müssen, ist jedoch nicht vorgesehen, wie Grünen-Sprecherin Sam Tanson bemängelte. So dass man auch in diesem Bereich nur bedingt von einem „Paradigmewiessel an der Aart a Weis wéi mir eis Hëllefen opstellen“ reden kann.
Kompetitivitéit In der anschließenden Debatte über die Rede zur Lage der Nation am Mittwoch in der Abgeordnetenkammer argumentierten Mehrheit und Opposition größtenteils aneinander vorbei. Zu groß sind die ideologischen Differenzen zwischen der politischen Linken und den rechtsliberalen Koalitionspartnern. Am deutlichsten wurde dies am Ende der Debatte, als Luc Frieden gestand, er habe „näischt verstanen vun där Äusso“, als der linke Abgeordnete Marc Baum ihm vorgeworfen hatte, die großen Probleme in seiner Rede bagatellisiert zu haben – dabei habe er doch Antworten in gesellschaftlich wichtigen Zukunftsfragen wie Wohnungsbau, Renten und Kinderarmut gegeben, beteuerte der Premierminister. LSAP, Grüne und déi Lénk hatten sich aber wohl nicht ernsthaft erwartet, dass Luc Frieden auf ihre Forderung nach einem höheren Spitzensteuersatz oder einer stärkeren Kapitalbesteuerung – der gesellschaftlichen Umverteilung von Reichtum – eingehen würde. Denn im neoliberalen Trickle-down-Wirtschaftsmodell von CSV und DP ist die Verringerung sozialer Ungleichheit, die laut Statec letztes Jahr erneut gestiegen ist, nicht vorgesehen. Deshalb ist es nur konsequent, wenn der Premierminister auf „Kompetitivitéit“ setzt, auf Wirtschaftswachstum, die Schaffung von Arbeitsplätzen – insbesondere im Bereich Datensouveränität, Satellitenkommunikation und autonomes Fahren. Wenn er Bettels Meluxina durch einen „Supercomputer vun der neier Generatioun“ ersetzt und „ee vun den éischte Quantecomputeren“ nach Luxemburg holen will.
Erhöhen will er die Kompetitivitéit durch die weitere Senkung der Körperschaftssteuer (von 17 auf 16 Prozent) ab dem 1. Januar, statt „Iwwerreglementatioun“ will er „zeréck bei de gesonde Mënscheverstand“, die taxe d’abonnement für börsengehandelte Indexfonds (von 0,05%) soll nächstes Jahr noch weiter herabgesetzt werden. Um „Talente“ für den Finanzplatz auszubilden und anzuziehen, soll die Uni Luxemburg zwei neue Masterstudiengänge (in Versicherungsmathematik und privater Vermögensverwaltung) anbieten, die steuerbefreite Beteiligungsprämie am Unternehmensgewinn und die teilweise Steuerbefreiung für hochqualifizierte Beschäftigte sollen noch attraktiver gestaltet werden. Zur Verbesserung der Kompetitivitéit gehört auch, dass die Arbeitszeiten flexibilisiert und die Sonntagsarbeit dereguliert werden sollen. Auf arbeitsrechtliche Maßnahmen für Arbeiter/innen wie die in einer EU-Richtlinie vorgesehene Anpassung des Mindestlohns und den Aktionsplan, um die tarifvertragliche Abdeckung auf 80 Prozent zu erhöhen, ging Frieden nicht ein, obwohl CSV-Arbeitsminister Georges Mischo beides noch vor den Sommerferien vorstellen will, wie er vor drei Monaten im Parlament verkündet hatte. Die Working Poor, die in Luxemburg verhältnismäßig zahlreicher sind als in den meisten anderen EU-Staaten, kamen in der Rede zur Lage der Nation nicht vor.
„Déi materiell Situatioun ass awer just eng Facette vun der Aarmut“, sagte Luc Frieden am Dienstag, „well Aarmut huet och immens Impakter op d’Gesondheet an d’Educatioun vun eise Kanner“. Deshalb soll die Gesundheitsministerin die „Médecine scolaire“ in „Santé scolaire“ umbenennen. Dass es zwischen materieller Situation und schlechter (körperlicher und mentaler) Gesundheit einen kausalen Zusammenhang geben könnte, kam Luc Frieden nicht in den Sinn. Kinderarmut sei inakzeptabel, doch er müsse „nach vill iwwer Kanneraarmut léieren“, hatte der Premierminister vor drei Wochen auf einer Caritas-Veranstaltung beteuert. Vermutlich hatte er den am Montag vom Statec veröffentlichten Bericht gelesen, aus dem hervorgeht, dass 24 Prozent der unter 18-Jährigen dem Armutsrisiko ausgesetzt sind, weil ihre Eltern monatlich weniger als 2 400 Euro zur Verfügung haben. Da die Armutsgefährdung vor allem Alleinerziehende betrifft, sollen sie schon ab nächstem Jahr steuerlich entlastet werden. Unverheiratete beziehungsweise Ungepacste ohne Kinder, die statistisch etwas weniger armutsgefährdet sind, müssen sich noch länger gedulden: Für die Einführung einer einzigen Steuerklasse soll CSV-Finanzminister Gilles Roth erst 2026 ein Projekt vorlegen (wie es schon im Koalitionsabkommen steht). Auf eine kleine Entlastung können aber alle Steuerpflichtigen schon nächstes Jahr hoffen: Zum 1. Januar soll die Steuertabelle um weitere 2,5 Indextranchen an die Inflation angepasst werden: Eine Maßnahme, die vor allem den Besserverdienern zugute komme, urteilten Sam Tanson und LSAP-Fraktionssprecherin Taina Bofferding, die sich stattdessen eine Steuergutschrift für Haushalte mit geringeren Einkommen gewünscht hätten.
Da all diese Maßnahmen Geld kosten und wegen des Kriegs in der Ukraine zudem der Verteidigungsetat drei oder vier Jahre früher als von der Vorgängerregierung geplant auf zwei Prozent des Bruttonationaleinkommens erhöht werden soll, fragten sich nicht nur die Oppositionsparteien, sondern auch die Journalist/innen, woher die Regierung dieses Geld nehmen will. Einerseits wohl durch die Kürzung der Energie- und Klimasubventionen: Die Strompreiserhöhung soll 2025 (außer für Revis-Empfänger) nur noch zur Hälfte bezuschusst werden, Gas überhaupt nicht mehr, wodurch die Inflation laut Statec zusätzlich um 1,2 Prozentpunkte steigen soll; die Beihilfen für Photovoltaik-Anlagen, Elektroautos und E-Bikes werden gekürzt beziehungsweise selektiver verteilt. In Abwesenheit von aktuellen Wirtschaftsprognosen – das Statec wird seine Note de conjoncture erst am Mittwoch vorstellen – ist auch unklar, wie der Staatshaushalt sich entwickeln wird. In zwei Wochen will der Finanzminister einen Kassensturz machen. Vielleicht hätte Luc Frieden seine Rede erst halten sollen, wenn mehr Klarheit über die finanzielle Lage der Nation herrscht.
Insel Der Premierminister und die CSV-Abgeordnete Diane Adehm zeigten sich am Mittwoch zuversichtlich, dass die Steuersenkungen die Wirtschaft wieder ankurbeln und mehr Geld in die Staatskasse spülen werden – ja, die Finanzlage insgesamt wahrscheinlich gar nicht so schlecht sei. Das Wort mutmaßte, dass auch die administrative Vereinfachung zu finanzieller Entlastung führen könne, vorausgesetzt sie sei umsetzbar. Denn Luc Frieden hatte seine optimistischen Ankündigungen in seiner Rede selber relativiert, als er meinte, die Prozeduren könnten nur dort erleichtert werden, wo das nicht gegen EU-Recht verstößt. Friedens Plan könnte aber tatsächlich auch in anderen Bereichen an der Umsetzbarkeit scheitern. Um schneller, dichter und klimaschonender zu bauen, braucht es nämlich nicht nur silence vaut accord, once only, digital first und vereinfachte PAG- und PAP-Prozeduren, sondern auch die Zustimmung und Mitarbeit der Gemeinden, die in vielen Bereichen noch autonom Entscheidungen treffen können. Sam Tanson fragte am Mittwoch zu recht, ob das von der Regierung verkündete einheitliche Bautenreglement für die Kommunen verpflichtend oder nur ein Modell sein soll, das sie annehmen können, wenn sie es denn wollen. „E méi dichte Wunnquartier“, von dem Frieden am Dienstag schwärmte, das „och méi attraktiv fir de Commerce“ sei, wollen bislang viele Bürgermeister/innen nicht in ihren Ortschaften haben, um den ländlichen Charakter zu erhalten und hohes Bevölkerungswachstum zu vermeiden. Denn „méi a méi séier bauen“ habe erhebliche Auswirkungen auf die Infrastruktur, wie ADR-Sprecher Fred Keup darlegte. Kläranlagen, Schulen, Betreuungs- und Freizeiteinrichtungen müssen mitwachsen, genau wie das Straßennetz und der öffentliche Transport, die jetzt schon vollkommen überlastet sind.
Zu Mobilität und Landesplanung sagte der Premierminister nichts in seiner Rede zur Lage der Nation, genau wie zu Familie, Kultur und Bildung, weshalb DP-Fraktionssprecher Gilles Baum sich genötigt sah, zumindest ansatzweise auf diese von seiner Partei besetzten Ressorts einzugehen. Baum fiel auch die schwierige Aufgabe zu, die Übergänge zwischen der Dreierkoalition und der neuen Regierung herauszuarbeiten, nachdem CSV-Fraktionspräsident Marc Spautz Grünen und LSAP vorgeworfen hatte, in der vorigen Legislaturperiode wichtige Projekte in die Schublade gelegt, statt umgesetzt zu haben.
Dass Frieden vor allem von der DP besetzte Themenfelder größtenteils beiseite ließ – über Außenpolitik sprach er mit Ausnahme der Europawahl und des Ukraine-Kriegs fast gar nicht – könnte darauf hindeuten, dass die Stimmung in der Koalition nicht so gut ist, wie die Regierung es nach außen darstellt. Außenminister Xavier Bettel und Wirtschaftsminister Lex Delles (beide DP) waren am Dienstag und Mittwoch nicht in der Abgeordnetenkammer anwesend, weil sie mit einer von Erbgroßherzog Guillaume angeführten Wirtschaftsdelegation nach Japan gereist waren. Vermutlich war es unvermeidbar, dass der Premierminister seine Rede gerade in dieser Woche hielt. Vielleicht war es dem Vizepremier und dem Wirtschaftsminister aber eh nicht so wichtig, Luc Frieden bei seiner One-Man-Show zu assistieren. Dafür durfte Claude Meisch auf dem Stuhl neben dem Premier Platz nehmen.
„Eine bürokratische Rede ohne Zukunftsvisionen“ hatte Fred Keup am Dienstag gehört. Auch Sam Tanson vermisste eine „positive Vision für die Entwicklung unseres Landes“ und stellte in ihrer bissigen Ansprache fest, mit politischer „Gestaltung“, wie sie der „CEO vu Lëtzebuerg“ am Anfang versprochen hatte, hätten seine Ausführungen wenig zu tun gehabt. Xavier Bettels erste Rede zur Lage der Nation von 2014 hatte über 107 000 Zeichen (in der schriftlichen Version). Damals gab es „vill ze maachen a vill ze veränneren“. Luc Friedens Einfach. Besser. Modern war mit 60 300 Zeichen nur etwas mehr als halb so lang. Viel zu tun gibt es für seine Regierung offensichtlich nicht. „D’Welt ronderëm Lëtzebuerg ännert sech“, stellte Frieden zu Beginn seiner Rede fest. Um nur wenige Minuten später zu ergänzen: „D’Welt ganz no ronderëm eis ass dramatesch.“ Luxemburg ist wieder eine Insel.