Luxemburgensia

„Tränen bei einem älteren Mann sind keine Tränen, sondern Wunden, die nicht verheilen“

d'Lëtzebuerger Land vom 29.01.2021

Am Anfang der Geschichte dieses Romans steht die Begegnung mit einem merkwürdigen Mann: mit Dado, auch Sudo oder Šemsedin genannt. Er spricht Ismail Bjelokosa an: Er habe gehört, dieser habe ein Haus zu vermieten, das er selbst gebaut hat. Dado selbst und seine Familie haben keine Wohnung, sie sind Menschen ohne Adresse und würden gerne bei Ismail einziehen. Früher einmal, ja, da hatten sie ein eigenes Haus, doch sie haben es verkauft. (An einen Räuberhauptmann, munkelt ein ehemaliger Nachbar.) Dados Familie, das sind seine Schwester, die „schöne Merima“, eine „darstellende Künstlerin“ und Sängerin, und seine Eltern. Dado bezeichnet sich selbst als „Jurist ohne Abschluss, genauer gesagt Richter“, und wenn er redet, klingt es, als würde er singen. Ismail hat Mitgefühl mit der Familie und lässt sie einziehen.

„Ismail hatte Verständnis für Leute, mit denen es das Schicksal nicht so gut meinte, weswegen sie im fortgeschrittenen Alter gezwungen waren, Zuflucht unter fremden Dächern zu suchen. Ismail Bjelokosa wusste nur zu gut, wie das war; auch er selbst hatte lange Jahre jenes Schicksal geteilt, in fremden Heimen hausen zu müssen. Der Versuch, sich bei jeder Gelegenheit mit seinem Wirt gut zu stellen – dem Hausbesitzer – verdirbt den Charakter ...“

Doch der Einzug der Familie Koh ist der Beginn einer sehr komplizierten Geschichte, denn die neuen Mieter stellen sich als wahre Störenfriede heraus, wie Ismails Nachbarn in dem muslimischen Dorf in Bosnien ihm nun vorwerfen. Nachts laufen sie nackt durch das hell beleuchtete Haus, beschimpfen Passanten und jagen sogar einmal einer Bettlerin hinterher, die es gewagt hat, an ihre Tür zu klopfen. Sie verlassen das Haus tagsüber nicht und vielleicht auch nicht nachts. Sie zünden Fackeln an und verfolgen sich gegenseitig schreiend. Niemand weiß genau, was zum Teufel in diese Familie gefahren ist. Man sagt, sie habe eine Bombe ins Haus gebracht, sie sei wahnsinnig, sagen andere. Es sei eine Krankheit, erklären Dritte, und da könne die Polizei nun mal nichts machen. Allmählich steigern sich die gegenseitigen Vorwürfe und das Gemunkel in der Nachbarschaft.

Menschen ohne Adresse ist ein bildlicher Roman voller Fragezeichen, den Faiz Softić auf Bosnisch verfasst hat. Der Autor wurde im Norden von Montenegro geboren, ist in Sarajevo aufgewachsen und hat schon früh angefangen, zu schreiben. Heute lebt er in Luxemburg und ist Chefredakteur der bosnisch- und französischsprachigen Zeitung Bihor. Während des Bosnienkriegs lebte er in Sarajevo. An die Kriege auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens, die dieses Jahr in den literarischen Diskussionen infolge der Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke und des Deutschen Buchpreises an den aus Bosnien und Herzegowina stammenden Saša Stanišić neu und erneut verhandelt wurden, rührt auch Faiz Softićs literarisches Werk. Seine Texte wurden mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet und befinden sich auf dem Lehrplan von Bosnien und Herzegowina, Kosovo und der Region Sandžak.

Der Krieg ist zunächst nicht Teil des Romans, sondern wird später Thema, wenn wir die Nachbarn Ismails und ihre Familiengeschichten kennenlernen, in die immer wieder, wie auch in die Familie von Dado, plötzlich der Schaitan, der Teufel, einzuziehen scheint – ohne dass man versteht, woher die plötzlichen Gewaltausbrüche kommen. Es ist eine Parabel für einen Krieg in einer Familie, in einer Nachbarschaft, in dem großen Land, das Jugoslawien einmal war und das durch die unterschiedlichen Geschwister zerrissen wurde. Ein plötzlich ausbrechender Wahnsinn, der letztendlich in abscheuliche Gewalttaten mündete – und uns zeigt, wie Nachbarn zu Mördern werden. Die Geschichte versucht nicht, linear zu erzählen, wer diese Leute sind und was genau passiert ist. Und noch weniger, wer Recht haben könnte. Man rätselt als Leser/in oft über die Beweggründe, aber das macht das Lesen erst zu einer Entdeckung: Wenn man sich seine eigenen Fragen stellen kann. Mit seinem sehr partikulären Thema und der interessanten Herangehensweise, der wundersamen Schilderung von Unverständlichem, mit merkwürdigen Figuren und unerhörten Begebenheiten, ist Menschen ohne Adresse ein spannendes Buch. Die Sprache ist allerdings anfangs etwas umständlich, der Erzählfluss holprig; man merkt dem Text die Übersetzung an. Allmählich wird die Geschichte flüssiger und leichter zu lesen, dennoch hätte ein gründlicheres Lektorat einige Schnitzer ausbügeln können und diesen spannenden, preisgekrönten Text nicht nur mehr Leser/innen zugänglich, sondern auch schmackhafter machen können.

Faiz Softić: Menschen ohne Adresse. Roman. Aus dem Bosnischen von Elvira Veselinović. Éditions Phi 2020. 128 Seiten. 17 Euro

Claire Schmartz
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