Luxemburgensia

Buch vum Wee

d'Lëtzebuerger Land vom 08.01.2021

Was ist eine Übersetzung? Nie kann ein Text eins zu eins übertragen werden. Jede Sprache ist anders, jeder Kontext neu. Welche Konnotationen entstehen aus Begriffen, Bildern und Sätzen? Wie gestalten sich diese im Original, wie in der Zielsprache? Eine Übersetzung ist auch eine neue Interpretation einer Botschaft, eine neue Lesart. Der Übersetzende wird, wie ein Musiker, zu einem Interpreten: Von einer neuen Stimme wird ein Text, eine Botschaft vermittelt. So wird auch diese verändert. Neue Schwerpunkte entstehen, neue Betonungen, Hebungen und Senkungen werden gewählt. Und dennoch: Vergleicht man beide Texte, beide Versionen, sind sie eins. „In Ketten tanzen“, nennt Nietzsche die Übersetzungsarbeit.

Betrachtet man Serge Tonnars D’Buch vum Wee, werden all diese Fragen laut. D’Buch vum Wee vereint Adaptionen einer jahrtausendealten chinesischen Textsammlung, des „Buches vom Dao und vom De“, vom Weg und vom Sinn, das der chinesischen Legende nach von Lao Tse verfasst wurde ... obwohl, wie es für viele Werke unter dem Autorennamen Shakespeare gilt, die Urheberschaft nicht eindeutig geklärt werden kann, vermutlich gab es mehrere Verfasser.

Serge Tonnar, der luxemburgische Autor, Theater- und Liedermacher, überträgt ausgewählte Texte ins Luxemburgische. Insbesondere hier, wo so viele Grenzen überschritten werden – räumliche, sprachliche, zeitliche, kulturelle und so weiter –, stellt sich die Frage: Was ist Übersetzen? Tonnar selbst liest und spricht kein Chinesisch, sondern hat sich an deutschen, englischen und französischen Vorlagen inspiriert. Auch die sind bereits Adaptionen des chinesischen Originals – und so steht schnell fest: Hier, im Buch vum Wee, wird ein Neues aus den jahrhundertealten Texten geschaffen. Auf Luxemburgisch, im Hier und Jetzt. Die Texte betreffen die heutige Zeit und verheißen doch zugleich die Botschaft, die dem alten Urtext inne ist. Sie behandeln Sein und Schein, das Leben in der Familie, die Staatsführung, Macht und Toleranz. „Maachen“ und „wierken“ stehen in einem Spannungsverhältnis, dessen Macht analysiert wird: Wann wird diese zur Gewalt, zur Bedrohung? Wie kann man im Einklang oder im Frieden mit sich und seiner Umwelt leben? Wie „einfach a reng bléiwen“, so der Titel eines Gedichtes? Immer wieder kehrt das Bild des Meisters wieder, der den Weg kennt. Er wird zum Vorbild erklärt, denn er scheint zwischen Passivität, Hinnahme und Kontemplation das Gleichgewicht zwischen sich und seiner Umgebung gefunden zu haben.

Mir verbannen drësseg Speechelen
ma dat Eidelt an der Mëtt
mécht eréischt e Rad
Mir maache Formen aus Toun an Äerd
ma dat Eidelt an der Mëtt
mécht eréischt eng Vas
Mir briechen Dieren a Maueren
ma dat Eidelt an der Mëtt
mécht eréischt en Haus
D’Form
kënnt aus deem wat do ass
De Sënn
kënnt aus deem wat net do ass
Dat Eidelt an der Mëtt

Die Sprache ist neu, modern und sehr gelungen. Sie versucht nicht, eine „alte, weise, fernöstliche“ Philosophie zu vermitteln, sondern übertragt in Form von kurzen, meditierten Texten eine Botschaft. Das Luxemburgische, der Klang, die Dissonanzen und Resonanzen bilden diesen Kern, der ihnen Kraft verleiht, klar heraus. Daneben bestechen die Bilder des Künstlers, Kunstmalers, Grafiker und Bildhauers Jean-Marie Biwer, die die Gedichte begleiten. Aquarelle, die oft atmosphärisch sind, die Gedichte nicht illustrieren, sondern ihre Stimmung einfangen. Auch eine Form der Übersetzung, die das Buch abrundet und zu einem wundervoll gebundenen Band mit gelungenen Texten macht, der zu besinnlichen Stunden einlädt. Zum Versinken in den Bildern, zum Meditieren über die Texte, um zur Ruhe zu kommen. So heißt es im Gedicht Schwéier a liicht:

Wann een alles fir liicht hält
wäert engem villes schwéierfalen
Hal alles fir schwéier
an alles fält der liicht.

Lao Tse: Tao Te King. Buch vum Wee. Gedichte. Freie Übertragung ins Luxemburgische von Serge Tonnar, mit Bildern von Jean-Marie Biwer. Éditions Guy Binsfeld 2019

Claire Schmartz
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