Ceratizit

Wolfram, der harte Stein

Ein Mitarbeiter führt eine Holzplatte an einer Kreissäge entlang
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 15.12.2017

Zu allererst entschuldigt sich Philippe Alzin, Linienchef für den Pressvorgang von Metallverspanungswerkzeug, für die vielen Baustellen um und in den Produktionshallen. Bei Ceratizit in Mamer wird im Schichtbetrieb gearbeitet. Da bleibt nur die Woche über Weihnachten, in der die Produktion stillsteht, um Arbeiten durchzuführen. So werden gerade in allen Ecken Renovierungs- oder Ausbaueingriffe vorbereitet. Ausgebaut hat Ceratizit in den vergangenen Jahren ständig. Die Geschäfte laufen gut, besonders seit 2002, als das Luxemburger Unternehmen Cerametal mit dem österreichischen Unternehmen Plansee Tizit fusionierte, erzählt Alzin. Was der Linienchef anhand von Baustellen und der Auftragslage beobachtet, bestätigen die Zahlen, die der Vorstandsvorsitzende Jacques Lanners nennt. Als die beiden Gesellschaften 2002 fus­ionierten, verbuchte das kombinierte Unternehmen einen Umsatz von 320 Millionen Euro und beschäftigte 3 400 Mitarbeiter. 2017 erreicht der Umsatz 1,1 Milliarden Euro und Ceratizit beschäftigt weltweit 9 000 Mitarbeiter, davon 1 500 in Luxemburg; für die heimischen Verhältnisse ein großer Betrieb.

Obwohl die Produkte von Ceratizit nicht an Endverbraucher gehen, spielen sie indirekt in deren Alltag eine ganz erhebliche Rolle. Das wird schon in der Rezeption klar, wo Ceratizit einige seine Produkte in Glasvitrinen ausstellt. Darunter ein ungefähr 20 Zentimeter breiter Zylinder, auf dem sich rundherum im Profil das gleiche Muster mehrmals wiederholt. „Damenbinden“, erklärt Firmensprecher Parwez Farsan. Hygieneartikelhersteller stanzen mit diesen Zylindern den Saugkern ihrer Produkte aus Zellstoffbahnen. Auch in der Windelproduktion kommen solche Stanzrollen von Ceratizit zum Einsatz. Über 100 000 verschiedene Produkte stellt der Betrieb her und die Anwendungsgebiete sind vielfältig. In der Süßwarenherstellung spielt Ceratizit eine nicht zu unterschätzende Rolle. Schokoladen- und Kokosnussverarbeitungsbetriebe bestellen bei Ceratizit in Mamer die Hämmer, mit denen sie in ihren Mühlen Kakaobohnen und Kokosnüsse knacken.

Jeder Luxemburger Hobbyhandwerker, der etwas auf sich hält, kauft sich Wergzeug von Hilti, statt von handelsüblichen Marken im Baumarkt. Dass deren Aufsätze länger halten, liegt unter anderem daran, dass die Spitzen von Ceratizit stammen. Im Bereich der professionellen Holz- und Steinverarbeitung ist Ceratizit mit einem Anteil von 80 Prozent Weltmarktführer. Das heißt Bohraufsätze oder Sägeblattspitzen auf professionellem Arbeitsmaterial stammen zu 80 Prozent von der Firma mit Sitz in Mamer.

Wer schon einmal wegen Karies beim Zahnarzt war oder eine Wunde hat nähen lassen müssen, dem waren Ceratizit-Produkte hautnah: in Form der Bohraufsätze und der Platinen der Zange, mit denen der Arzt die Nadel hält. Nicht nur die Mikrochips, die Computer und Smartphones funktionieren lassen, werden mit Platinenbohrern von Ceratizit gefräst, die feiner sind als ein menschliches Haar. Die Aluminiumschalen, die als äußere Hülle von Computern und Smartphones dienen, werden ebenfalls mit Ceratizit-Aufsätzen ausgehöhlt und in die richtige Form gebracht.

Und auch in der Herstellung von Komponenten für die Automobilproduktion spielt Ceratizit eine Rolle. Indem die Firma die Aufsätze liefert, mit denen die Motorblöcke zerspant werden, und weil 70 Prozent der Hersteller von Alufelgen Ceratzit- Lösungen gebrauchen. Alle diesen Lösungen ist gemein, dass sie aus Hartmetall bestehen, das – man hat es vermutet – besonders hart und außerdem zäh ist. Zurück zu den Binden, Pampers oder Kokosnüssen: Andere Metalle, wie Stahl, nutzen bei der Bearbeitung von Zellstoff schnell ab, erklärt Parwez Farsan (deshalb sind beispielsweise auch die Kugeln im Kugelschreiber aus Hartmetall), um nicht ständig die Produktion zum Wechseln der Rollen und Hämmer anhalten zu müssen, beziehungsweise ständig neue kaufen zu müssen, setzen die Hersteller deshalb auf Hartmetall.

Um zu verstehen, was Certazit macht, helfen Analogien aus der Küche, genauer aus dem Backbereich. Das Hartmetall, erklärt Alzin, während er durch die Produktion führt, besteht aus einer Verbindung von Wolframcarbid und Kobalt, den Zutaten. Das Übergangsmetall Wolfram nennen Briten und Franzosen Tungsten, was auf Schwedisch soviel heißt wie „schwerer Stein“. Nicht von ungefähr, denn Wolfram hat eine sehr hohe Dichte – auch kleine Hartmetallteile wiegen überraschend schwer in der Hand.

Allerdings ist Wolfram äußerst spröde und zersplittert wie Glas, fährt Alzin fort. Um ein widerstandsfähiges Material zu erhalten, wird unter das pulverisierte Wolframcarbid Kobalt gemischt. Wolfram hat eine sehr hohe Schmelztemperatur. Die von Kobalt ist geringer. Beim Backen, was Industrielle Sintern nennen, schmilzt das Kobalt, legt sich um die Wolframteile, füllt die Leerräume dazwischen und klebt sie zusammen. Das so entstehende Hartmetall ist weniger spröde als reines Wolfram, das „härteste und hitzeresistenteste Metall überhaupt“, erklärt Alzin. Offensichtlich lässt sich das nach dem Backen nur noch mit großem Aufwand weiterverarbeiten. Um das schwierige Nacharbeiten auf ein Minimum zu beschränken, wird es vorher so präzise wie möglich in Form gepresst.

Drei Generationen von Pressen stehen in Alzins Bereich, in dem Zerspanungswerkzeuge hergestellt werden. Der Linienleiter kennt Vor- und Nachteile in- und auswendig. Die erste Generation steht hier seit 30 Jahren, ist aber immer noch im Einsatz. Die hydraulischen Pressen der zweiten Generation waren keine optimale Lösung. Mit der dritten Generation von elektrisch betriebenen Roboterpressen ist Alzin sehr zufrieden – „sehr viel präziser“.

200 verschiedene „Backmischungen“, in denen Wolframcarbid und Kobalt je nach späterer Anwendung in unterschiedlich großen Mengen vorkommen, mit jeweils noch verschiedenen Untermischungen, stellt Ceratizit selbst her. Sie enthalten außerdem Paraffin, das beim Pressen hilft, die staubige Mischung aus Wolframcarbid und Kobalt in Form zu halten, wie Alzin ausführt. Die Backmischung wird in Eimern an die Pressen geliefert, in Reservoirs geschüttet. Eine geringe Menge davon wird von den Maschinen auf die Matrizen gegeben, die „Backformen“, dann gibt die Presse Druck von oben und unten. Danach werden die noch bröseligen Teile in Reih und Glied auf Backbleche sortiert, auf denen sie in die Sinteröfen geschoben werden. Ein Vorgang, der in Sekundenschnelle vorbei ist.

An den neuen Pressen holt sich der Roboterarm hinter seinem Schaufenster jeweils das Arbeitsgerät, das er braucht, und legt es danach ordentlich wieder ab. Die Matrizen müssen regelmäßig gereinigt werden. In den neuen Pressen holt sich der Roboter dazu eine kleine Bürste, an den älteren Maschinen steht dazu jeweils eine elektrische Zahnbürste bereit, mit denen die Mitarbeiter die Stempel säubern. „Funktioniert einwandfrei“, urteilt Alzin. Weil zum Reinigen so einige elektrische Zahnbürsten draufgehen, habe Luxemburg den höchsten Pro-Kopf-Verbrauch weltweit, so Farsan.

Auch die fertig gepressten Teile werden einmal abgebürstet, um sie von eventuellen Unreinheiten zu befreien. In den neuen Maschinen holt sich der Roboter dazu sein griffbereit abgelegtes Bürstchen, in den alten Maschinen werden dazu, je nach Auftrag, unterschiedlich breite Pinsel eingeklemmt, an denen die Teile vor dem Ablegen auf die Backbleche vorbeistreichen. Egal ob neue oder alte Maschinen: Die Pinsel sind immer aus Eichhörnchenhaar, erklärt Alzin. „Wir haben alles probiert und alle anderen Haare hinterlassen Kratzer!“, fügt er hinzu. High-Tech trifft auf Low-Tech.

Zwischen 15 und 20 Stunden dauert der Sinterprozess. Dabei schrumpfen die Teile um bis zur Hälfte, müssen danach aber genaueste Vorgaben erfüllen. „Um diesen Prozess genau zu kontrollieren“, sagt Alzin nicht ohne Stolz, „da ist schon Know-how gefragt.“ Bei jedem Produktionsschritt werden Proben entnommen und kontrolliert. Zwischen den Pressen lugen Mitarbeiter in Mikroskope und messen, ob sich eventuelle Größenabweichungen im Vergleich zu den Vorgaben im Toleranzbereich halten oder die Maschinen neu ausgerichtet werden müssen. Nach dem Sintern und nach dem Schleifen wird erneut geprüft.

Denn je nachdem werden die Teile durchaus nachgearbeitet – das geht dann nur noch mit Diamanten. Und manche erhalten, um bei den Backanalogien zu bleiben, eine Glasur. Um neue Oberflächenbehandlungen zu entwickeln, Beschichtungen, die die Lebenszeit der Produkte verlängern, unterzeichnete Ceratizit vergangene Woche eine Forschungsvereinbarung mit dem Forschungszentrum List. Das Unternehmen investiert selbst rund vier Prozent seines Umsatzes in Forschung und Entwicklung, 40 Millionen Euro jährlich. 200 Mitarbeiter tüfteln unter anderem an der Zusammensetzung des Wolframcarbids, das in Differdingen hergestellt wird. Und machen sich Gedanken über neue Werkzeugformen – je mehr Kanten ein Zerspanungsmesser hat, um so seltener muss der Kunde es auswechseln, so Alzin, „das bringt Produktivitätsgewinne“. Innovation ist für das Unternehmen „überlebenswichtig“, sagen Firmenchef und Linienleiter übereinstimmend, denn die Konkurrenz, auch in Billigproduktionsländern, schläft nicht, da muss man sich abgrenzen. „Unser Ziel ist es zu erreichen, dass 40 Prozent unserer Produkte unter fünf Jahren alt sind“, erklärt Jacques Lanners, dessen Großvater 1931 mit der Produktion von Glühbirnendrähten begann. Plansee Tizit nutzte die Hitzeresistenz von Wolfram schon zehn Jahre früher zur Herstellung solcher Drähte, zusammen haben die Unternehmen 90 Jahre Erfahrung im Umgang mit Hartmetall. Hielten es die Luxemburger vor der Fusion eher mit Coca-Cola und meldeten keine Patente an, damit niemand ihre Forschungsergebnisse beim Patentamt nachschlagen konnte, pflegten die Österreicher eine andere Kultur, die seit der Fusion auf das ganze Unternehmen ausgeweitet wurde. Eine langjährige juristische Auseinandersetzung hat Lanners von den Vorzügen der Patentanmeldung überzeugt. „Ein Konkurrent hat uns kopiert, dann ein Patent auf unserem Produkt angemeldet und danach uns verklagt. Weil wir kein Patent hatten, dauerte es ziemlich lange, bis wir nachweisen konnten, dass wir im Recht waren.“

Auch Ceratizit produziert in Fernost. Das Joint-Venture CB-Ceratizit gehört seit 2010 zur Gruppe. „Ceratizit war das erste Luxemburger Unternehmen, das in China produziert hat“, erzählt Lanners. Wegen der Löhne, erklärt er, sei das Produzieren dort mittlerweile weniger günstig als in Osteuropa. Doch China hat für Hartmetallhersteller andere Reize. Es verfügt über die größten Wolfram-Vorkommen weltweit. Zwar darf das Joint-Venture den Rohstoff nicht exportieren, kann ihn aber zur eigenen Produktion günstig beziehen.

Die chinesische Tochtergesellschaft hat wesentlich zum Wachstum in der Gruppe beigetragen. Die Expansion von Ceratizit ist darüber hinaus durch Zukäufe getrieben. Allein in den vergangenen fünf Jahren hat die Gruppe vier Firmen aufgekauft und ist ein weiteres Joint-Venture eingegangen. Weltweit ist Ceratizit derzeit die Nummer fünf der Hartmetallwerkzeughersteller und setzt 65 Prozent seiner Produktion in Europa ab, 25 Prozent in Asien und zehn Prozent in Amerika. Gerne würde man in die Top-Drei aufsteigen, aber Nummer drei, räumt Lanners ein, ist doppelt so groß wie Ceratizit. Das Unternehmen will auf dem amerikanischen Kontinent und in
Asien Marktanteile gewinnen, weil es in Europa in vielen Bereichen bereits Marktführer ist. Da ist das Gewinnen zusätzlicher Marktanteile umso schwerer. Allerdings bringt die geografische Ausdehnung nicht immer den gewünschten Erfolg. In den USA, erzählt Lanners, habe das Unternehmen die falsche Strategie gewählt. „Wir dachten, wenn wir unsere europäischen Qualitätsprodukte aufbieten, dann müssten die Amerikaner sie kaufen wollen. Aber Qualität ist für die nicht unbedingt das erste Kaufargument.“ Das habe man lange nicht verstanden, so Lanners, nun wolle man das amerikanische Management auf seinem Markt mehr gewähren lassen, in der Hoffnung, dass die Verkaufszahlen steigen.

Um Kunden zu gewinnen und an sich zu binden setzen aber auch Industrieunternehmen wie Ceratizit auf guten Service. Zum einen entwickelt der Betrieb gemeinsam mit Kunden Lösungen für die von ihnen gewünschten Anwendungen und schult sie zum anderen noch im Umgang damit. „Wir wollten das nicht großspurig Universität nennen“, sagt Lanners, deshalb heißt das Schulungsprogramm nun Ceratizit Academy. „Das hat Riesenerfolg“, ist Lanners selbst verwundert. Nur einzelnen habe es nicht so gut gefallen, mit dem Konkurrenten in der Schulbank zu sitzen. Darüber hinaus hat das Unternehmen ein Logistikzentrum aufgebaut, das Bestellungen, die abends vor 18.30 Uhr eingehen, am folgenden Tag vor Mittag ausliefert. „Das ist schneller als Amazon!“, sagt der Chef mit Genugtuung.

Michèle Sinner
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