Als vor sieben Monaten im Luxemburger Gemeinderat der Entwurf des neuen Flächennutzungsplans (PAG) für die Hauptstadt vorgestellt wurde, waren die Oppositionsparteien CSV, LSAP, ADR und déi Lénk sich in einer Klage einig: Sie hätten das riesige Dossier „zu spät“ einsehen können, aber offenbar fehle es dem PAG an „Zukunftsleitbildern“. Weshalb der DP-Grüne-Schöffenrat des „laisser-faire“ verdächtigt wurde.
Derzeit dauern die Anhörungen der Personen und Organisationen noch an, die Einwände zum PAG vorgebracht haben. Einfach sind Reklamationen vor allem bei so einem umfangreichen Plan wie dem für die Hauptstadt nicht: Laut Gesetz hat die Öffentlichkeit nach der Auslegung des Dossiers nur 30 Tage Zeit dazu. Vielleicht ist auch deshalb die Zahl der Reklamanden mit an die 820 nur ungefähr so groß wie es die zu dem 1991 verabschiedeten „Joly-Plan“ war. Dennoch brauchen die Anhörungen ihre Zeit; der Schöffenrat empfängt alle Einwender einzeln. Bürgermeisterin Lydie Polfer (DP) erklärte am Montag auf dem Neujahrsempfang ihres Gemeindepersonals, bis Ende des Monats würden die Anhörungen abgeschlossen. 620 Personen habe man bisher empfangen, rund 200 fehlten noch. Am 13. März werde der Gemeinderat über den dann überarbeiteten PAG formell abstimmen. Danach entscheidet innerhalb von sieben Monaten der Innenminister über den Flächennutzungsplan
Weil Luxemburg-Stadt die Hauptstadt ist, die mit Abstand größte Gemeinde und der Wirtschaftsmotor des Landes, ist ihr PAG natürlich besonders bedeutsam. Doch nicht nur deshalb wird interessant sein zu sehen, was der Schöffenrat nach dem Votum im März für dann eine Woche erneut öffentlich auslegt. Sondern auch, weil fachkompetente Personen und Organisationen Einwände gemacht haben, die es in sich haben und in so mancher Hinsicht in eine ganz ähnliche Richtung zielen wie die Opposition im Gemeinderat im Sommer.
Für die Usill zum Beispiel, den Dachverband der Stadtviertel-Interessenvereine, enthält der PAG ein Demokratiedefizit: Details über das, was baulich genehmigt werden kann, wurden aus dem PAG in Teilbebauungspläne (PAP) für „existierende Quartiers“ ausgelagert. Das sei zwar zulässig, schreibt die Usill. Doch wer gegen einen PAP reklamiert, muss nicht individuell vom Schöffenrat angehört werden und dieser muss nicht unbedingt der Reklamation Rechnung tragen. Über Einwände gegen einen PAP erfährt der Gemeinderat nichts – während Lydie Polfer den Hauptstadt-Gemeinderat im Februar über die Einwände gegen den PAG ins Bild setzen will –, und der Schöffenrat muss dem Reklamanden nicht erklären, weshalb er dessen Einwand nicht Rechnung trug.
Auch dem Architekt Alex Simonis ist das aufgefallen. Damit werde die „Intransparenz des Systems erhöht“, schreibt er. Letztlich arrangiere das „die Akteure des Immobilienmarkts, die damit so genannte Nimbys los sind“. Was wahrscheinlich umso besser klappen düfte, als die PAP Quartiers existants nur wenig grafische Informationen enthalten und für Nicht-Fachleute schwer verständlich sind.
Solche Einwände klingen zwar ziemlich technisch, aber zugleich besorgniserregend. Nicht zuletzt, wenn sie von jemandem wie Simonis kommten, der früher der staatlichen Kommunalplanungskommission im Innenministerium angehörte, die unter anderem PAG-Entwürfe begutachtet, und der später im Landesplanungsministerium und eine Rolle spielte bei der Initiierung und Ausführung des „Masterplans Nordstad“.
Aber diese Defizite haben ihren Ursprung vermutlich darin, dass der DP-Grüne-Schöffenrat während der Aufstellung des PAG-Entwurfs, die schon vor zehn Jahren begann, allzu viel Strategiebildung vermied – jedenfalls eine mit den Bürgerinnen und Bürgern. Der Mouvement écologique schreibt in seiner Reklamation höflich, die praktizierte Bürgerbeteiligung sei ein „Fortschritt“, aber man hätte „eine noch intensivere Beteiligung begrüßt“, und zwar schon „in den Jahren oder Monaten vor der Prozedur zum PAG“. Die Stadt müsse „in Zukunft“ einen „so breit wie möglich gestalteten Dialog über übergreifende Schlüsselfragen“ organisieren.
Usill-Präsidentin Rita Herrmann bescheinigt dem Schöffenrat, dass er sehr wohl Informationsveranstaltungen zum PAG organisierte, als der noch im Entstehen war. Auch Stadtviertelgespräche, bei denen Arbeitsgruppen mit interessierten Bürgern gebildet wurden und diese sich mit ihren lokalen Anliegen einbrachten. „Der Schöffenrat nahm auch etwas mit aus diesen Veranstaltungen.“ Aber: „Es war nicht viel, vielleicht eine Handvoll Ideen.“ Man habe das Gefühl gehabt, der Schöffenrat habe sich „herausgepickt, was ihm wichtig schien, und Slogans benutzt, um seine Vorstellungen für die Leute bekömmlicher zu machen“. Strategische Fragen, findet die Usill-Präsidentin, müssten „viel intensiver vorab diskutiert werden“.
Weil das nicht geschah, muss es wohl nicht verwundern, dass es beim Dachverband der Interessenvereine Unbehagen und Skepsis zu vielen Themen gibt, die gerade in der Hauptstadt „strategisch“ sind. So ist die Mobilität für die Usill „das Sorgenkind“ im PAG. „Es gibt nicht wirklich ein Konzept dafür“, beklagt Rita Herrmann. „Es ist von Verkehrsberuhigung in den Quartiers die Rede, was auch eine Forderung der Interessenvereine war. Doch es wird nicht klar, wie sie vonstattengehen soll. Es sieht so aus, als sollten viele plötzlich ihr Auto stehen lassen, aber wie genau soll das klappen?“ Deshalb sei zum Beispiel schwer einzuschätzen, ob das Wohnungsbauprojekt auf dem früheren Gelände von Villeroy & Boch „wirklich gut“ ist: „Im Raum steht die Frage, ob der Verkehrsimpakt auf die anliegenden Viertel realistisch eingeschätzt wurde.“
Alex Simonis’ Kritik zielt in eine ähnliche Richtung: Es gebe gar keine Analyse, wie die Entwicklung von Bevölkerung und Arbeitsplätzen auf Verkehr und Mobilität in der Hauptstadt wirke oder welchen Einfluss die sukzessive vom Staat gebauten Großinfrastrukturen, wie Straßen, Tram und Peripheriebahnhöfe, darauf hätten. Dabei sei die Lage in der Stadt derart „hypersensibel“, dass schon ein kleiner Unfall in den Vororten den Fluss des Autoverkehrs bis in die Innenstadt hinein blockieren könne.
Der Wohnungsbau-Ansatz des Schöffenrats im PAG ist nach Ansicht des Architekten zu „reaktiv und liberal“. Es gebe „keine Reflexion über benötigte Wohnungs-Typologien je nach Haushaltsgröße“, und über die Zusammenhänge von Wohnungstypen und urbaner Struktur stehe in dem Planentwurf „lediglich das gewerkschaftliche Minimum“. Konkrete Ansätze, wie für die Schaffung „von preiswerten und von Sozialwohnungen in ausreichendem Maß“ gesorgt werden soll, seien „inexistent“; wie in neuen Wohnvierteln die immer wieder erwähnte „soziale Mischung“ zustande kommen soll, sei unklar. Damit könne die Hauptstadt die „Gentrifizierung auf sehr hohem Niveau“ nur verstärken – so hoch wie die Immobilienpreise sind. Ebenso wenig gäben die Dokumente Auskunft über den Nachbarschafts-Einzelhandel in den Quartiers, der ja, könnte man annehmen, sanft mobil zu Fuß oder per Rad erreichbar sein sollte. Angesichts solcher Mängel sei Luxemburg-Stadt strategisch „nicht auf der Höhe der Ziele und Ambitionen einer Hauptstadt“.
So niederschmetternd und einleuchtend diese Kritiken sind, so kompliziert sind die Verhältnisse um PAGs. Ein PAG ist ein Plan über die Nutzung der Flächen im kommunalen Territorium. Als solcher wird er vom Innenminister genehmigt. Welche politischen Strategien dem PAG unterliegen, sieht man ihm am Ende nicht an. Deshalb hatte Hauptstadt-Mobilitätsschöffin Sam Tanson (Déi Gréng) gar nicht so Unrecht, als sie Rita Herrmann, wie diese dem Land erzählt, erläuterte, „Mobilität hat mit dem PAG nichts zu tun“.
Allerdings sind die Gemeinden, seit 2004 das damals fast siebzig Jahre alte Kommunalplanungsgesetz reformiert wurde, verpflichtet, der Ausarbeitung eines neuen PAG eine so genannte Étude préparatoire voranzustellen. Sie muss den Ist-Zustand der Entwicklung erfassen, die kurz-, mittel- und langfristige Entwicklung skizzieren, die die Gemeinde will, und Vorschläge zur Umsetzung machen. Die Studie ist damit die strategische Basis des PAG.
Über sie hinaus können die Gemeinden Leitpläne aufstellen und vom Gemeinderat beschließen lassen. Was zum Beispiel in der Nordstad mit dem Masterplan geschah, der in den sechs beteiligten Gemeinden für politisch verbindlich erklärt wurde. Vorher wurden Plenarversammlungen für die Gemeinderäte und die Bürger organisiert und Arbeitsgruppen, an denen auch lokale Firmen und Geschäftsleute beteiligt waren. Auch die Gemeinde Schüttringen hat gezeigt, wie das gehen kann: Auf der Grundlage eines „Dorfentwicklungsplans“ – ein seit 1989 bestehendes Instrument, bei dem das Landwirtschaftsministerium die Aufstellung einer lokalen Entwicklungsstrategie kofinanziert und begleitet – gab Schüttringen sich vor vier Jahren einen Aktionsplan zur Gemeindeentwicklung, der mit Bürgerbeteiligung ausgearbeitet und vom Gemeinderat einstimmig angenommen wurde. Auf diese Weise gelangten Bürgerinteressen, politisch gesehen, auf Augenhöhe mit Promoteur-Interessen.
Einen Aktionsplan brauchte Luxemburg-Stadt wahrscheinlich ebenfalls. Der Usill wäre sehr daran gelegen, „dass man sich gemeinsam vorstellt, wie die Stadt in Zukunft aussehen soll“. Positiv sei immerhin, sagt Rita Herrmann, dass der Schöffenrat hat wissen lassen, er trage Bürgereinwänden zum PAG Rechnung. Aber wolle man für die Zukunft eine Art „Denkfabrik“ über die Stadtentwicklung einrichten, „dann müssten wir anders aufgestellt sein“ und es müssten sich mehr Bürger in den Stadtteilvereinen engagieren. „Man brauchte wahrscheinlich ein Forum für die Stadt, wie in der Landesplanung.“
Ob das politisch gewollt wäre, ist durchaus eine Frage in der DP-dominierten Hauptstadt, wo zu viel Strategiebildung schnell als Einmischung in den Immobilienmarkt verstanden wird. Und wie die Dinge liegen, nähert dieser Linie sich auch die große Politik an: Demnächst dürfte vom Parlament das „Omnibusgesetz“ zur „Verwaltungsvereinfachung“ verabschiedet werden. Dem Gesetzentwurf zufolge soll die so wichtige vorbereitende Studie zum PAG nur noch die „bestehende Situa-tion“ analysieren. Die „kurz-, mittel- und langfristige Entwicklungsstrategie“, die heute noch abgeleitet werden muss aus „dem Kontext der natio-nalen und regionalen Landesplanung und aus für die Gemeinde spezifischen politischen Optionen“, soll entfallen. Auch „konkrete Vorschläge zur Umsetzung dieser Strategie“ soll die Étude préparatoire nicht mehr enthalten, und die Feststellung der „bestehenden Situation“ soll sich nicht mehr auf ein „Inventar des städtebaulichen Rahmens, der sozio-ökonomischen Struktur, der öffentlichen Ausrüstungen und der die Natur-Milieus konstituierenden Elemente stützen“ müssen. „Daten aus Lärmschutz-Aktionsplänen, die anhand strategischer Lärmkarten für spezielle Zonen aufgestellt wurden“, müssen künftig nicht mehr ausgewertet werden.
Innenminister Dan Kersch (LSAP) und seine Beamten erklärten dem zuständigen Parlamentsausschuss im September 2015, die Études préparatoires seien „sehr voluminös“. Sie hätten „nicht die 2004 vom Gesetzgeber beabsichtigte Wirkung“ gehabt und seien „kostspielig für die Gemeinden“. Die um Wachstumsszenarien erleichterten Studien würden „für den Bürger lesbarer“.
Dass Bürger und ihre Interessenvertreter während der Prozedur zum Stater PAG offenbar das genaue Gegenteil wünschen, ist natürlich bemerkenswert. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb das Innenministerium die Anfrage des Land, ob juristisch gesehen ein Bürgereinwand gegen die Entwicklungsstrategie einer Gemeinde und die Étude préparatoire zum PAG denselben Stellenwert habe wie eine Reklamation gegen eine Planung, die den Bürger als Grundstücksbesitzer betrifft, bis zum Redaktionsschluss dieses Artikels noch nicht beantwortet wurde.