Nacht und Träume ist das vorletzte Fernsehspiel von Samuel Beckett, ein schwarzweißes Fernsehstück, 1983 für den Süddeutschen Rundfunk (SDR) produziert. Es ist ein Werk ohne Worte. Man hört nur eine männliche Stimme, die eindringlich summt, dann singt, die letzten sieben Takte von Schuberts Lied, dessen Titel Pate stand für Becketts Nachtstück. Das Bühnenbild im TNL ist minimalistisch: Fünf grellleuchtende Balken säumen die Bühne und zeugen in ihrer Anordnung von Chaos. An surrend-verrauschten Retro-Fernsehern folgen Publikum und Darsteller rund zehn Minuten einer historischen Aufzeichnung von Nacht und Träume. Der Träumer hört die letzten Takte von Schuberts Lied und senkt dabei in Zeitlupe den Kopf auf die Hände: Obwohl Becketts Werk um ein gottloses Universum kreist, haben die im Stück omnipräsenten Hände etwas Sakrales. Entschleunigung oder die Entdeckung der Langsamkeit. Beklemmung legt sich über den Theater-Saal ... bis die Schauspieler beginnen, Text vorzutragen: eklektisch, schräg und ironisch-verfremdet.
Jura Soyfers Stück Weltuntergang oder Die Welt steht auf kein‘ Fall mehr lang (1936), das zwar kaum Trost bietet, dafür umso mehr groteske Komik, erzählt – ähnlich wie Karl Kraus’ Stück Die letzten Tage der Menschheit – von der nahenden Apokalypse angesichts eines zerstörerischen Krieges. Auch das dramatische Debüt des 1912 im zaristischen Charkiw (heute Ukraine) geborenen Juden Soyfer ist ein dezidiertes Anti-Kriegsplädoyer. Sein Stück wurde im Mai 1936 in Wien uraufgeführt und schnell wieder abgesetzt. Der überzeugte Antifaschist starb 1939 im Alter von nur 26 Jahren im KZ Buchenwald an Typhus. In seinen Theaterstücken brachte er Rassenwahn und Faschismus auf den Punkt.
So schrieb Soyfer im KZ Dachau zusammen mit dem Komponisten Herbert Zipper das bekannte Dachau-Lied mit dem Refrain: „Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt, und wir wurden stahlhart dabei. Bleib ein Mensch, Kamerad, sei ein Mann, Kamerad, mach ganze Arbeit, pack an, Kamerad: Denn Arbeit, denn Arbeit macht frei, denn Arbeit, denn Arbeit macht frei!“
In Soyfers Weltuntergang steht die Menschheit kollektiv vor der Katastrophe. Mond und Sonne verständigen sich darüber, dass die Erde krankt ... und zwar nicht etwa an globaler Erwärmung oder an Altersschwäche wie die Queen, sondern an der Menschheit! Die planetarische Gemeinschaft schickt den Kometen „Konrad“ aus, um die heillos verlorene Erde zu zerstören. Professor Guck (in Hoffmanns Inszenierung verkörpert durch einen urkomisch wie Otto Waalkes wirkenden Jean-Paul Maes) warnt die Regierungen – vergeblich, und die Menschheit taumelt, verblendet vom Faschismus, ihrer Auslöschung entgegen.
Frank Hoffmann, der in einem starken Auftritt am zweiten Spieltermin Nickel Bösenberg improvisierend ersetzt, verwebt in Nacht und Träume/ Weltuntergang gekonnt Film mit Text. Die Lesenden sind ganz und gar Beckett’sche Figuren, die beziehungslos in einer sinnlosen Welt am Abgrund taumeln und durch ihr Spiel den Schmerz der Existenz zu betäuben versuchen. Becketts minimalistischer filmischer Diagnose stellt Hoffmann Soyfers satirischen Text entgegen, der den Weltuntergang als groteske Komödie beschreibt.
Anne Moll wirkt im TNL etwas schrill. Tatiana Nekrasov wandert gegen Ende mit Schiebermütze in die Zuschauerreihen und deklamiert Chaplin-artig ihre Liebe zur Erde. Das Mimen französischer und englischer Dialekte (soll heißen: ‚wir sind in Paris, wir sind in London’) wirkt etwas affektiert. Insgesamt tragen die Schauspieler die Texte aber ausdrucksstark vor. Mitreißend vor allem Ulrich Kuhlmann, der wie ein geschlüpfter weißer Vogel kauzig-irre in die Welt schaut.
Mit Nacht und Träume/ Weltuntergang eröffnet das TNL die Spielzeit so auf eine fast zu andächtige Weise: Die Welt steht vor dem Abgrund. Die Verbindung der beiden grundverschiedenen Texte zu einem straffen Theaterabend, einer szenischen Lesung, gelingt auf unheimliche und doch amüsant-groteske Art und Weise. Fast wirkt es so, als hätten Hoffmann und sein Hausdramaturg sich gesagt: Lasst uns gerade im Angesicht eines tobenden, sich ausweitenden Krieges die Absurdität spielen, eine Welt, die sehend und paralysiert dem Untergang entgegentaumelt, auf die Bühne beschwören. El mal se cura con el mal, das Böse heilt man mit dem Bösen, heißt es auf Spanisch. Ein (Endzeit-)Spiel verrückter, herrschsüchtiger und kaputter Narren.