„Indésirables“ aus Übersee: Migrant/innen in Luxemburg am Anfang des 20. Jahrhunderts (3)

„Moralisch fragwürdig“

d'Lëtzebuerger Land du 04.08.2023

In dieser Serie wird über Einzelgeschichten die Verwobenheit Luxemburgs mit anderen Weltregionen dargestellt. Diese Geschichten beruhen auf historischen Quellen, hauptsächlich auf Fremdenpolizeiakten aus dem Luxemburger Nationalarchiv. Da die Akten von der Polizei produziert wurden, implizieren sie immer auch einen bürokratischen und kriminalistischen Blick, was es schwierig macht, die Geschichten dahinter zu lesen. Neben Wissen zu der Zeit und ihren Umständen ist es also notwendig, auch die Fantasie etwas spielen zu lassen.

Der dritte Teil der Serie handelt von einem der vielen überseeischen Migrant/innen, die durch die Kriegshandlungen im Ersten Weltkrieg nach Europa kamen und schließlich in Luxemburg landeten. So wurden jede Menge Soldaten und Arbeitskräfte von den europäischen Mächten aus den Kolonien nach Europa gebracht, und mit Kriegseintritt der USA 1917 verstärkte sich die Präsenz überseeischer Migrant/innen weiter. Die afroamerikanischen Soldaten, die in strikt getrennten Regimentern kämpften, hofften durch ihre Teilnahme am „Großen Krieg“ Anerkennung und staatsbürgerliche Rechte zu erlangen. Auch W.E.B. du Bois, der bekannte Bürgerrechtler und Soziologe, rief unter dieser Prämisse Schwarze1 Männer dazu auf, dem Militär beizutreten. Nach dem Krieg mussten die meisten dieser zurückgekehrten Soldaten allerdings feststellen, dass diese Rechnung nicht aufgegangen war und sogar versucht wurde, ihre Teilnahme am Krieg zu vertuschen2. Doch nicht alle Soldaten kehrten in die USA zurück. Einige blieben in Europa, vor allem in Frankreich, einem Land, das sie zumindest während des Krieges als weniger rassistisch erlebten3. Eddie-Robert Young war einer der Soldaten, die blieben.

Soldaten I – amerikanische Befreier

Eddie-Robert Young (geboren 1895 in Pittsburgh, in Luxemburg 1926)

Geliebte Marie,

Wie gut es tut, an euch zu denken!!

Hier in meiner Zelle kann ich an nichts anderes tun als denken, an unsere drei Rascals und an dich, daran, was wir gemeinsam durchgemacht haben und wie das Schicksal uns zusammengebracht hat. Ein Weltkrieg musste ausbrechen, damit ich dich kennenlernen konnte. Einen Ozean musste ich überqueren. Die harte Arbeit am Hafen in Brest, und meine Kameraden hatten, wie ich, fast alle französische Freundinnen, die schwarzen wie die weißen Soldaten. Natürlich wurden wir härter bestraft. Und du hattest immer Angst um mich. Es war auch klar, dass die meisten Beziehungen nicht halten würden. So war es auch gedacht. Wir mussten ja wieder nach Hause. Aber ich wollte das nicht. Ich wollte bei dir bleiben. Und auch du konntest nicht von mir lassen. „Mir ist egal, was die Leute sagen, meine Familie und Nachbarn“, hast du gesagt. „Für sie macht es einen Unterschied, ob ich mit einem schwarzen Soldaten ausgehe oder ihn heirate“, wolltest du mir erklären. Ich habe das damals nicht ganz verstanden, weil es in Frankreich ja nicht so schlimm ist wie bei mir zu Hause. Aber für dich war es nicht leicht. Das habe ich irgendwann begriffen, und auch für mich wurde es immer schwieriger. Darum haben wir immer wieder den Ort gewechselt. Deswegen sind unsere Kinder alle woanders geboren, Edit in Montbéliard, René in Straßburg und Paul in Amnéville. Dabei war die Geburt von Paul die aufregendste. In unserem Haus fernab von allem wurde er geboren. Die ganze Nacht hast du gelitten und warst ganz tapfer und dann endlich um 9 Uhr früh waren die Qualen vorbei und Paul erblickte das Licht der Welt.

Wenn ich jetzt an unsere kleinen Rascals denke, denke ich unweigerlich auch an meine Geschwister. Natürlich waren die schon älter, als ich von Chicago wegging und in den Krieg musste. Als sie begriffen, dass sie mich womöglich nie wiedersehen würden, weinten sie herzzerreißend. Jetzt habe ich sie schon neun Jahre lang nicht gesehen. Ich hoffe, dass den kleinen Paul, Edit und René meine Abwesenheit nicht zu hart trifft!?

Gestern habe ich endgültig erfahren, dass ich nach meiner Haftentlassung ausgewiesen werde. Entschuldige bitte, liebste Marie. Ich weiß, dass das nicht unser Plan war. Ich war mir sicher, dass ich meine Strafe absitzen müsste und nach meiner Entlassung hier gleich wieder eine Anstellung als Mechaniker finden würde. Auch wenn viele Kunden oft seltsam auf mich reagiert haben, habe ich schließlich bei der bekannten Garage Dondelinger gearbeitet! Aber es soll wohl nicht sein… Das Wichtigste ist, dass wir beisammen sind. Also lass uns Vorbereitungen treffen, Marie. Wenn ich rauskomme, werde ich meinen letzten Lohn bekommen und beim Konsul einen Pass beantragen, und dann lass uns nach Deutschland gehen. Denn nach Frankreich kann ich ja nicht mehr zurück und du hast, glaube ich, auch genug davon. Die gute Nachricht ist, dass ich hier, aus dem Grundgefängnis, bald wieder rauskomme! Wir sehen uns also bald!

Fühl dich umarmt und küsse drei Rascals von mir,

With love,

Eddie.

Soldatenleben und Liebesbeziehungen

Obwohl Young nicht nur Englisch und Französisch, sondern auch Deutsch konnte, stellt sich die Frage, ob er während seiner circa viermonatigen Haft im Grundgefängnis Briefe an seine Frau geschrieben hat und ob ein solcher Brief so angekommen wäre. Schließlich durften Gefangene nur einmal im Monat, an bestimmten Tagen, Briefe schreiben und wurden dazu angehalten, sich möglichst kurz zu fassen, um die Zensur zu erleichtern4.

Young wurde 1895 in den Nordstaaten der USA geboren und lebte dort bis zu seinem Eintritt ins Militär. Auch wenn die Behandlung von Afroamerikaner/innen in den Nordstaaten etwas besser war als im Süden, war auch hier die Ungleichbehandlung stark zu spüren und besonders kurz vor Kriegseintritt 1917 vermehrten sich gerade dort rassistisch motivierte Gewalt und Lynchmorde an Schwarzen. Für viele Schwarze Bürgerrechtler repräsentierte der Eintritt ins Militär die Hoffnung, sich unter Beweis stellen zu können und danach als volle Bürger wahrgenommen zu werden. Viele Schwarze gingen also freiwillig zum Militär, andere wurden eingezogen. Bei Kriegseintritt der USA war Young Anfang 20, während seine drei jüngeren Geschwister noch zu jung waren, um eingezogen zu werden.

Young erreichte Europa, wie viele andere amerikanische Soldaten, über den Hafen von Brest. Da er dort seine Frau Marie Leost (geboren 1892 in Brest) kennenlernte und 1919 heiratete, nehme ich an, dass er dort stationiert war. Wahrscheinlich arbeitete er für die amerikanische Armee am Hafen. Viele Afroamerikaner waren im Ersten Weltkrieg Teil sogenannter „Labour Platoons“ und verrichteten Arbeitsdienste unter schrecklichen Bedingungen5.

Während des Ersten Weltkriegs hatten viele Schwarze Soldaten in Frankreich französische Freundinnen oder Liebschaften, auch wenn das amerikanische Heer dies zu verhindern versuchte und die Schwarzen Soldaten oft hart bestraft wurden. Während von amerikanischer Seite versucht wurde, Segregation und Ungleichbehandlung aufrecht zu erhalten, berichteten viele afroamerikanische Soldaten von überraschend positiven Reaktionen der französischen Bevölkerung. Der Unterschied zwischen ihrer Behandlung in den USA und in Frankreich war für viele Schwarze sicher ein Grund, in Frankreich zu bleiben. Für Young und einige andere war eine Liebesbeziehung möglicherweise ein weiterer Grund. Trotz der begeisterten Erzählungen Schwarzer Soldaten während des Krieges war Frankreich jedoch nicht frei von Rassismus, was vor allem an der Behandlung von Migrant/innen und Zwangsarbeiter/innen aus den französischen Kolonien gesehen werden kann. Auch hier wurden Liebesbeziehungen zu Französinnen als skandalös angesehen6.

Diesen Rassismus muss Young zumindest nach dem Krieg zu spüren bekommen haben, was womöglich ein Grund für die vielen Wohnsitzwechsel von Young und Leost war: Zunächst lebte das Paar in Brest, wo Young als Mechaniker arbeitete. Ab 1922 ging es von Belfort nach Montbéliard und über Straßburg nach Amnéville. Während dieser Umzüge kamen drei Kinder zur Welt. 1926 kamen sie schließlich nach Luxemburg, wo Young als Mechaniker in der angesehenen Garage Dondelinger arbeitete, jedoch nach rund einem Monat verhaftet wurde. Grund dafür war die „betrügerische Unterschlagung eines Kraftfahrzeugs“7.

Das Gericht verurteilte ihn zu sechs Monaten Gefängnis. Nach vier Monaten wurde er bereits wieder entlassen und des Landes verwiesen. Auch aus Frankreich sei er schon ausgewiesen worden, da er laut Straßburger Polizei auch dort schon gestohlen hatte. Er sei moralisch fragwürdig, würde gerne trinken und habe einen schlechten Ruf. Weitere Informationen liefern die Akten leider nicht. Wir wissen nicht, ob es sich bei dem Auto um ein Fahrzeug der Garage Dondelinger, das eines Kunden oder ein anderes Auto handelte. Hatte Young wirklich vor, das Auto zu stehlen? Ging es tatsächlich um einen Autodiebstahl oder wollte er sich an seinem Arbeitgeber oder an einem Kunden rächen? Handelte es sich vielleicht um ein Missverständnis oder wurde er aus rassistischen Gründen beschuldigt und verurteilt? Viele Szenarien sind hier vorstellbar; vor allem auch, weil eine relativ kurze Gefängnisstrafe verhängt wurde. Auch die Diebstähle, die ihm in Straßburg vorgeworfen wurden, sind nicht weiter spezifiziert und werfen Fragen auf. Was mit der Familie Young-Leost nach Youngs Entlassung und Ausweisung geschah, wissen wir ebenfalls nicht. Falls sie 1926 wirklich nach Deutschland gingen, ist es aufgrund Hitlers Machtübernahme 1933 nicht sehr wahrscheinlich, dass sie dort lange blieben. Für Menschen wie Young, Leost und ihre Kinder schien Europa wohl immer kleiner zu werden, und es wäre sicher interessant, mehr über ihren weiteren Lebensweg herauszufinden.

Young war nicht der einzige afroamerikanische Soldat, der Luxemburg erreichte. Bildquellen zeigen immer wieder afroamerikanische Soldaten, zum Beispiel jene, die die Truppen in Diekirch mit Proviant versorgten. Und auch andere Soldaten aus Übersee befanden sich während des Weltkriegs in Luxemburg. So wissen wir zum Beispiel von nordafrikanischen und aus Bildquellen auch von senegalesischen Soldaten8. Der Erste Weltkrieg funktionierte als Migrationskatalysator, der die europäische Kultur massiv beeinflusste.

Julia Harnoncourt forscht zu zeitgenössischer Geschichte am C2DH der Universität Luxemburg.

1 Schwarz mit großem „S“ wird hier benutzt, um von Rassismus Betroffene zu bezeichnen. Mehr dazu zum Beispiel hier: https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/schwarz

2 Johnson, Wray R. (1999): „Black American Radicalism and the First World War: The Secret Files of the Military Intelligence Division“. In: Armed Forces & Society 26 (1), S. 27–53

3 The National WWI Museum and Memorial: Firsthand Accounts from Black Soldiers in WWI, https://www.theworldwar.org/learn/about-wwi/black-soldiers-wwi

4 ANLux, J-108-0317980, Young / Joung Eddi Robert, Léost Marie, Joung Edit, Joung René, Joung Paul Jos., 1926

5 Stovall, Tyler (1996): Paris noir. African Americans in the city of light. Unter Mitarbeit von Tyler Stovall. New York: Houghton Mifflin, 3-7

6 Stovall 1996, 15-20; The National WWI Museum and Memorial

7 ANLux, J-108-0317980, Young

8 ANLux, ET-DH-026 Séjour des troupes américaines dans le Grand-Duché de Luxembourg de novembre 1918 à décembre 1919, 1918-1923, établi par Tony Ginsbach

Julia Harnoncourt
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