Vielleicht wird es eines Tages heißen, dass in den letzten Jahrzehnten kein Luxemburger Regierungsmitglied während der Arbeitszeit mehr Gepäck mit sich herumschleppte, als Mars Di Bartolomeo. In der rechten Hand eine große, prall gefüllte Aktentasche, unterm linken Arm geklemmt zwei oder drei dicke Ordner. So sah man den Düdelinger Sozialisten, Gesundheits- und Sozialminister zwischen 2004 und 2013 unter CSV-Premier Jean-Claude Juncker, quasi immer, wenn er im Dienst unterwegs war. Er selber sagt, er habe stets alles dabei haben wollen „für den Fall der Fälle“. Doch wer ihn so sah, konnte an Schaffert und Dossiersmënsch denken. Mars Di Bartolomeo ist es überhaupt nicht egal, wie er bei den Leuten ankommt. Auch heute, mit 71. Er ist ein Meister der Inszenierung und ein glänzender Taktiker. Und ja: ein Dossiersmënsch auch.
Minister ist elf Jahre her. Es folgten fünf Jahre Kammer-Vorsitz bis 2018. Danach ein einfaches Abgeordnetenmandat und 2023 ein weiteres. Jetzt tritt er zu den Europawahlen an. Als Anfang des Monats der „Politmonitor“ von Ilres für Wort und RTL erschien, konnte man überrascht sein: Von 16 Kandidaten zu den Wahlen am 9. Juni war Di Bartolomeo der Beliebteste. Vor dem Langzeit-Europaabgeordneten Charles Goerens (DP), dem 2019 mit Abstand Bestgewählten. Doch so überraschend ist das gar nicht. Populär ist Mars Di Bartolomeo seit mindestens 20 Jahren. Es gab bloß einen Bruch, weil Ilres ihn aus der Hitparade nahm, nachdem er kein Kammerpräsident mehr war. „Ich war sauer, jedenfalls am Anfang.“ Marc Spautz von der CSV, schiebt er nach, sei ebenfalls sauer gewesen. Auch er war 2018 aus der Hitparade gestrichen worden.
Di Bartolomeos gutes Abschneiden wirft die Frage auf, was geschieht, falls er am 9. Juni besser gewählt wird als der aktuelle LSAP-Europaabgeordnete Marc Angel, aber die Partei in Straßburg keinen zweiten Sitz erringt. „Umfragen sind Umfragen“, entgegnet er schnell, „man darf sie nicht überbewerten.“ Über Wahlausgänge spekuliert hätten Partei und Fraktion nicht, insistiert er, „das wäre unehrlich gegenüber den Wählern“. Doch einen wie ihn auf die Europaliste zu setzen, birgt für die Fraktion auch das Risiko, ihr einziges Mitglied mit Oppositions-Erfahrung zu verlieren. Was die wert ist, sieht man schon an der Zahl der parlamentarischen Anfragen: Di Bartolomeo stellte 81, seit die neue Kammer-Session begann. Der Abstand zu Yves Cruchten (50) und Dan Biancalana (48) ist durchaus groß. Und wie er im Dezember die neue CSV-Sozialministerin Martine Deprez zur Rentenreform aus der Reserve lockte, war gut durchgeführte Oppositionsarbeit. Er selber will das gar nicht so hoch hängen. „Wenn im Koalitionsvertrag steht, dass Zusatzrenten gestärkt werden sollen, aber sonst nicht viel mehr, dann frage ich natürlich nach.“ Die Kolleg/innen in der Fraktion würden solche Reflexe auch immer mehr entwickeln. Aber dann sagt er: „Ich bin ein bisschen wie der große Bruder für sie, und manchmal wäre es gar nicht schlecht, wenn sie mir öfter widersprechen würden.“ So viel für den Fall, dass er nach Europa ginge.
Apropos Renten: Mars Di Bartolomeo weiß besonders gut, wie hoch der politische Preis für Pensionsreformen sein kann. Die im öffentlichen Sektor 1998 wurde der LSAP angelastet; ein Jahr später wurde sie aus der Regierung gewählt. Nach dieser Wahl wurde Di Bartlomeo Abgeordneter. Die Rentenreform von 2012 verantwortete er. Und verlor vielleicht deshalb 2013 im Südbezirk fast jede vierte persönliche Stimme im Vergleich mit 2009. Obwohl dennoch Zweitgewählter hinter Jean Asselborn, verzichtete er auf ein Regierungsamt.
Sozialist/innen vom linken Flügel sagen, er sei einer von ihnen. Er selber meint das auch. Arbeiterklasse: Der Großvater, 1907 aus den Abruzzen nach Luxemburg eingewandert, war Bergmann in Volmerange-les-Mines: „Frontalier den anere Wee“, sagt Mars Di Bartolomeo. Der Vater war Schmelzarbeiter; bei einem Arbeitsunfall schnitt ein Blech ihm den halben Fuß ab. Sein Sohn war damals elf. Die Knochenarbeit von Großvater und Vater prägte ihn. Dass er in der Grundschule plötzlich „Spaghettisfriesser“ genannt wurde, ebenfalls. „Nur wegen meinem Familienamen.“ Der Großvater habe ihm eine gewisse „anarchistische Ader“ mitgegeben. „Mich kriegt man nicht mit Autorität, nur mit Argumenten.“
Am liebsten wäre er Grundschullehrer geworden, doch sein Notendurchschnitt der Première reicht nicht für die Aufnahme ans Institut pédagogique. Plan B ist Lycéesprof, Mars Di Bartolomeo geht an den Cours universitaire und belegt das Fach Psychologie. Doch nach dem ersten Jahr ins Ausland zu gehen, um weiterzustudieren, ist nicht sein Plan. Als ein Freund, der als Korrespondent für das Tageblatt arbeitet, ihm erzählt, dort würden Journalisten gesucht, versucht er das. 30 andere versuchen es auch. Die erste Reportage, die er im Selektionsverfahren schreibt, handelt von „Luxemburger Vorarbeitern im Obermaschnistenverband“. Am Ende ist er unter der Handvoll, die Chefredakteur Jacques F. Poos zu Einzelgesprächen ruft. Eine Woche später kommt das Angebot zur Festanstellung als Redakteur. Di Bartolomeo nimmt an und schreibt über „alles“. Sport, Lokales, Chamber, Innenpolitik und zuletzt Außenpolitik. Es ist Anfang der Siebzigerjahre. Yom-Kippur-Krieg, Militärputsch in Chile, Nelkenrevolution in Portugal. Was Teil seiner Politisierung war. Begonnen hatte sie schon vorher, Ende der 60-er, in der Jeunesse de la ligue ouvrière, einem gemeinsamen Jugendverband von LAV und LSAP. 1972 tritt er der LSAP bei, kommt ins Nationalkomitee der Jungsozialisten. Anfang der 80-er baut er die Aktioun fir de Fridden mit auf, gegen die Stationierung von Atomraketen der Nato wie des Warschauer Pakts. Am „Plattform“-Dokument der Aktioun schreiben neben ihm auch Jean-Claude Juncker und der spätere Wort-Chefredakteur Léon Zeches mit. Beide unterzeichnen es am Ende jedoch nicht.
Es sind Kontakte und Netzwerke, die Mars Di Bartolomeo schließlich in den großen Politikbetrieb führen. 1984, nach mehr als zehn Jahren beim Tageblatt, wird er LSAP-Fraktionssekretär. Der damalige Sekretär Robert Goebbels, drauf und dran, Minister zu werden, bietet ihm das an, auch er war früher Tageblatt-Journalist. Kurz vorher, erinnert Di Bartolomeo sich, habe Land-Herausgeber Léo Kinsch ihm ein Angebot gemacht. Hätte der damalige Editpress-Direktor Alvin Sold gesagt: „Bleib!“, wäre Mars Di Bartolomeo beim Tageblatt geblieben, dessen stellvertretender Chefredakteur er mittlerweile war. Doch Sold sagt das nicht. Sondern, dass er ihn sowieso nicht halten könne. Zwei Monate später wird er Di Bartolomeo vorwerfen, die Redaktion verraten zu haben. Dass er auch John Castegnaro konsultierte, hat Sold ebenfalls übel genommen, denn der bietet Di Bartolomeo prompt an, für den OGBL zu arbeiten. Wer in Netzwerken unterwegs ist, muss mit emotionalen Fallen rechnen.
Das ist ein Risiko, das Di Bartolomeo eingeht. Es ist die andere Seite seines Leitmotivs „Panz, Häerz, Kapp a frou mat de Leit“. Wahrscheinlich fühlt nur Xavier Bettel sich ähnlich wohl als Trottuarspolitiker, wie Mars Di Bartolomeo. Der sagt: „Wenn ich auf den Markt gehe, in Düdelingen oder in der Stadt, habe ich am Ende mit vielen geredet. Andere Politiker stehen zu fünft unter sich. Damit sagen sie den Leuten: Ich bin hier, damit ihr mich seht, aber bleibt mir mit euren Sorgen vom Leib.“ So dürfe Politik nicht sein.
Ob Mars Di Bartolomeo es immer so hielt und hält und in seine Politik stets einbezieht, was ihm erzählt wird, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Einen Sinn für das Machbare hat er auch, darin ist er ein guter Taktiker. In der Regierung ab 2004 kommt das zum Tragen. Als richtigen Erfolg als Minister verbucht er heute nur die Einführung des Einheitsstatuts im Privatsektor. Gesundheits- und Rentenreform hingegen nicht. Und gerne erzählt er, wie es ihm gelang, kurz nach der Regierungsbildung zu verhindern, dass die Mammerent aus der Rentenksse finanziert wurde: Im Koalitionsvertrag steht das, die CSV verhandelte darüber nicht. Di Bartolomeo will es nicht, und John Castegnaro, der Ex-OGBL-Chef, den Di Bartolomeo überredet hat, mit in die Wahlen zu gehen, verlangt auf dem LSAP-Kongress, wegen der Mammerent auf die Koalition zu verzichten. Was Di Bartolomeo viel zu weit ginge und weshalb er zum ersten – und wie er sagt, einzigen – Mal Krach hat mit Casteg. Später in der Regierung wird er einen Dreh finden, die Mammerent, eine politische Kreation Jean-Claude Junckers, aus dem Staatshaushalt zu bezahlen: Aus diesem werden damals die Verwaltungskosten der Sozialkassen gedeckt. Di Bartolomeo findet, die könnten mit rein in die Tripartite-Finanzierung. Juncker stimmt zu, wissend, dass bei steigender Frauenbeschäftigungsquote mit den Jahren weniger Geld für die Mammerent nötig sein wird.
Dabei hatte 2004 die Ämtervergabe eigentlich anders sein sollen. Di Bartolomeo ist dabei, sein Bürgermeisteramt aufzugeben. Der Plan ist, dass Marc Zanussi ihm nachfolgt. Alex Bodry soll nach LSAP-Vorstellungen Justizminister werden, Di Bartolomeo Innen- und Wohnungsbauminister. Nach Zanussis Unfalltod opfert Bodry sich und wird Bürgermeister; Di Bartolomeo war Erstgewählter im Süden. Di Bartolomeo hat auch ein Opfer gebracht; der Zweitgewählte Jean Asselborn will Außenminister werden, was den Vizepremier mit sich bringt. „Ich hätte auch Vizepremier werden könnene, aber das war okay, Jean ist ein guter Freund.“ Ganz so einfach war es am Ende nicht; die Netzwerke sind voller emotionaler Fallen, aber 2004 ist lange her. Und kurz vor den Wahlen 2009 kann Di Bartolomeo sich, gemeinsam mit CSV-Arbeitsminister François Biltgen, als Architekt des Einheitsstatuts fühlen. Heute sagt er, das habe auch deshalb so gut geklappt, weil Biltgen, wie er, ab 1984 Fraktionssekretär war. „Wir waren beide politische Generalisten und Troubleshooter.“ Was sicher nicht übertrieben ist: In der LSAP-Fraktion war Di Bartolomeo der einzige Mitarbeiter neben zwei Halbtags-Sekretärinnen. Die CSV hat nur wenige mehr.
Dass er lieber Wohnungsbauminister geworden wäre, statt Santé & Sécu von DP-Minister Carlo Wagner zu übernehmen, liegt weniger am 130-Millionen-Euro-Defizit in der Krankenversicherung, um das der neue Minister sich kümmern muss, als daran, dass Di Bartolomeo und die LSAP hoffen, mit Innen- und Wohnungsbauminister in Personalunion etwas bewegen zu können. Di Bartolomeos Ideen sind bekannt. Den öffentlichen Wohnungsbau ankurbeln, indem man den Perimeter öffnet. Wo es sinnvoll ist, Wohnhäuser „aus dem Baukasten“ bauen, weil das preiswert ist. Aber unbedingt darauf achten, dass öffentliche Wohnungen nicht verkauft werden können. Das, sagt er heute, habe er als Düdelinger Bürgermeister zu spät begriffen: „Wir hatten ein sehr gutes Projekt, konnten als Gemeinde ganz billig Bauland zur Verfügung stellen und die Leute dort für sechs bis sieben Millionen Franken ein Haus selber bauen“. An ein Vorkaufsrecht für die Gemeinde aber dachte niemand. Als sechs bis acht Jahrte später die Häuser für eine halbe Million Euro ihre Besitzer wechseln, schwant dem Bürgermeister, dass er eine „Todsünde“ begangen hat.
Wahrscheinlich trug er einiges dazu bei, Düdelingen als Hochburg der LSAP zu erhalten. Eigentlich ist die viertgrößte Gemeinde des Landes, obwohl sie in der Stahl-Tradition steht, keine rgelrechte Arbeiterstadt; schon in den Neunzigern war sie es nicht mehr. Doch als Mars Di Bartolomeo, der 1988 zum ersten Mal in den Gemeinderat gewählt wurde, bei den Kommunalwahlen 1993 ziemlich Erster wird und den Bügermeister, den Ersten und den zweiten Schöffen überrundet, sieht die lokale LSAP das als Zeichen: Die absolute Mehrheit war ihr gerade so geblieben; einen Neuen auf den Bügermeisterstuhl zu lassen, konnte die beste Chance zum Machterhalt sein. Gleichzeitig ist die Konjunktur nicht die Beste, die Gemeidnefinanzen sind es auch nicht. Unter Di Bartolomeo startet der Schöffenrat viele kleine Projekte, auch mit Blick darauf, dass die Bevölkerung sich nicht nur aus Arbeitern zusammensetzt: Das Dokumentationszentrum für Migration, die Fête de la musique, kommunale Galerien. Einen lokalen Service emploi und einen kleinen Wirtschaftsgipfel. Als in der zweiten Hälfte der 90-er die Konjunktur wieder anzieht, kann die Gemeinde sich mehr leisten. Und der Bürgermeister ist immer wieder auf der Straße und redet mit den Leuten. Zusammengenommen ist es vielleicht das, was der LSAP bei den Gemeindewahlen 1999 fast 60 Prozent der Stimmen bringt.
„Wir hatten damals einen Plan für die Gemeinde und haben den runterdekliniert.“ So müsse das auch in den EU-Politiken sein. „Bréissel ass dach wéi Diddeléng.“ Was in der EU fehle, sei „Netzwerkbildung von Gleichgesinnten“. Als Minister habe er erlebt, wie in Ratstreffen manche Kollegen motiviert und vorbereitet waren, andere gar nicht. Andererseits, wie sich mit der deutschen und der belgischen Kollegin vor an die 20 Jahren ein wirksamer Widerstand gegen die „Bolkestein-Richtlinie“ bilden ließ.
Die EU, findet Mars Di Bartolomeo, brauche ein paar Pläne für Schlüsselbereiche. Für die Industrie, den Klimaschutz, die Einwanderung zum Beispiel. Dazu müsse das Europaparlament gestärkt werden und mit den nationalen Parlamenten zusammenarbeiten. Die wiederum sollten eigene Vorschläge machen können. „Dass es in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Probleme gibt, ist ja wahr.“ Nur über diesen Weg könne Europa mehr zu den Leuten. Die LSAP nennt das in ihrem Wahlslogan etwas kitschig „„Europa brauch estaarkt Häerz“.