Die kleine Zeitzeugin

Weh ave a dream

d'Lëtzebuerger Land vom 09.06.2023

Jubelschreie werden ausgestoßen und Tränen werden verdrückt, und die Faust gereckt, aber nur nebenbei, nur light, eher Freude, Götterfunken und Euphorie, wo kommen die plötzlich her, wo kommt das plötzlich her, das Feuer? Wer hat das Feuer angefacht? Das uralte. Dachten, es sei erloschen. Längst. Verglüht, der Wind der in diesem Jahrtausend weht, hätte es längst zum Verglühen gebracht. Wer wollte noch so altmodisch lodern? Eine komische Kämpferin sein für so was Eingemottetes. Unappetitliche alte Linke. Jahrzehnte lang wurden Proletarier/innen Prolls genannt und dienten der Spaßgesellschaft als Witzfiguren. Die Proletarier/innen, die sich junge Bürgerstöchter vor langer Zeit als schön gemeißelte Heroes des Sowjetischen Realismus, der gar nicht realistisch war, vorgestellt hatten. Die Proletarier/innen, denen sie im schneedurchstöberten Morgengrauen vor Fabriktoren missionarisch Flugblätter zusteckten, schauten irgendwie anders aus … anders realistisch. Und, stellten sie bald klar, wegen denen würden sie nicht mehr nachts aus den Federn kriechen! Die wollten gar nicht erlöst werden, die wollten nicht mal ihre eigene Diktatur, die wollten ein Eigenheim.

Und jetzt stellt sich jemand hin und sagt all diese unappetitlichen Worte. Klasse. Er sagt das M-Wort, er sagt, er sei Marxist, und als es dann großen Aufruhr gibt, weil ein Roter das M-Wort sagt, sich auch noch dazu bekennt, rudert er ein bisschen zurück, das passt den M-Wort-Detektor/innen auch wieder nicht. Was denn jetzt, Marxist oder nicht? Gulag oder nicht, oder nur Kolchose? Als müsse jede/r Katholik/in sich von der Inquisition distanzieren. Auf Spiegel-Covern darf die Ikone mit dem patriarchalen Bart zwar würdevoll schauen und im Feuilleton wird gegrübelt, ob der WG-Poster-Hero der Siebzigerjahre ein Widergänger ist oder ein Auferstandener. Aber im wirklichen Leben. In der Realität. Dass da einer kommt und ihn selbstverständlich schamlos in den Mund nimmt. Einer, der auch noch an die Macht kommen kann. Ein Macher auch noch. Einer, der ein Ideologe ist, wie immer wieder schaudernd befunden wird, aber dann auch noch ein Pragmatiker. Ein Bürgermeister. Haha. Bürgermeister. Eines 19 000-Einwohner-Städtchens. Seit bald zehn Jahren, wie andere anerkennen. Und das Städtchen hat es in sich. Nämlich die größte Flüchtlingsunterkunft des Landes. Und das Land heißt Österreich, auch das noch, das chronisch rechte Österreich. Und dieser klitzekleine Bürgermeister hat das hingekriegt, die Flüchtlinge, die Einwohner/innen, und gegen den rechten Landestrend 70 Prozent bei den Wahlen eingeheimst. In diesem Städtchen gab es keine Wutbürger/innen vor der Flüchtlingsunterkunft!

Arbeiter, sagt er, die es doch gar nicht mehr gibt. Er sagt es auf dialektisch, er sagt Oabata, die Oabata, weil er selber aus so einer Famülie kommt, aus einer Oabata-Famülie, davon erzählt er gern und gut, er kann gut reden. Ein Retro-Linker ist der Verbündete der Frauen und Klimaschützer aber keinesfalls. Mitreißend, hinreißend, tourt er unermüdlich durch die Lande, tritt in kleinen Wirtshäusern und großen Hallen auf, vor der Basis seiner Partei und allen Dahergelaufenen.

Nichts ist falscher und lächerlicher als die Bild-Zuschreibung „Wiener Salonkommunist“, genau das ist er nicht. Ganz ohne Zynismus!, schwärmt der Schriftsteller Robert Menasse. Der EU-Fan Menasse hat sich trotz dem vor der Wahl aufgetauchten Video von vor drei Jahren, in dem er gegen die EU wettert, nicht distanziert. Er ist nicht der einzige Intellektuelle, der nicht spöttelt oder die Nase rümpft, der mit ihm sympathisiert oder in seinem Team ist, wie es sportlich heißt.

Alte linke Träumerinnen regredieren lustvoll? Werden sentimental wie von Gott Befreite zu Weihnachten? Gerade noch hedonistische Individualisten, träumen die von Basisarbeit in einer behäbigen Pensionist/innenpartei, die wie die Jungfrau zum Kind plötzlich zu einem echten Linken als Vorsitzenden gekommen ist? Von einer geilen heilen linken Welt? Mit Tränen bei der Internationale wie bei Woodstock?

Es gibt eine Sehnsucht, sagt Andreas Babler.

Träume? Ja, sagt er. Die wir verwirklichen werden.

Michèle Thoma
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