Hart an der Grenze

Ein kleines Land

d'Lëtzebuerger Land vom 12.08.2011

„Norwegen ist ein kleines Land”, sagen die Norweger, dabei ist es über 385 000 Quadratkilometer groß und zählt fast fünf Millionen Einwohner. Der Ausländeranteil in der Wohnbevölkerung liegt bei zehn Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt beträgt 414,5 Milliarden US-Dollar. Auch Luxemburg ist ein kleines Land, allerdings noch 125 Mal kleiner als das norwegische Königreich. Dank der immer noch stark wachsenden Einwohnerzahl ist unsere Bevölkerungsdichte 13 mal größer. Wir haben (noch) keine Stadt mit mehr als 100 000 Einwohnern, aber wir arbeiten dran. Was die Ausländerpräsenz angeht, kann Norwegen uns nicht das Wasser reichen, wir zählen – relativ gesehen – mehr als viermal so viel. Beim „BIP pro Kopf“ beträgt unser Vorsprung 30 Prozent, aber dieser Wert ist ja, wie wir hoffentlich alle wissen, nicht sehr aussagekräftig.

Warum dieser kurze Vergleich mit Norwegen? Weil dort seit dem 22. Juli die Uhren anders ticken. Weil dort ein unsäglicher Mensch eine noch unsäglichere Tat begangen hat, und diese auch noch als „politische Aktion“ verstanden haben will. Breivik ist ein Getriebener, blind vor Hass auf Andersartige, Fremde, Muslime. Wir verstehen diese Explosion der Gewalt nicht, auch nicht das Weltbild dieses Mannes. Und doch: „Er war einer von uns“, sagt man in Norwegen. Die Betonung liegt auf „war“, denn heute gehört er definitiv nicht mehr dazu. Wahrscheinlich hat er sich schon vor langer Zeit verabschiedet, sich mehr und mehr isoliert, zuerst noch Zuflucht bei Gleichgesinnten gesucht, um sich dann auch von denen abzuwenden.

Das ist ein wichtiger Punkt, auch für unsere eigene, sprich Luxemburger Gesellschaft. Ab wann hat man das Gefühl, nicht mehr richtig dazu zu gehören, nicht mehr verstanden, nicht mehr gehört zu werden? Man beginnt zu „fremdeln“, im eigenen Land, man erkennt seine Umwelt, sein Umfeld nicht wieder, man versteht es nicht! Die Lage erscheint umso bedrohlicher und hoffnungsloser, als es niemand gibt, der einem die Dinge und Zusammenhänge richtig erklären kann oder will. Wie viele Menschen, insbesondere Jugendliche, auch bei uns, tun sich schwer mit der Immigration, mit Integrationsfragen, mit der starken Grenzgängerpräsenz? In einigen Sekundarschulklassen habe ich die Erfahrung gemacht, dass viele Schüler das „Entwicklungsmodell Luxemburg“ nicht verstehen: Warum ist Französisch zur Arbeitssprache Nummer eins geworden? Wieso zählt unser Land über 80 000 Portugiesen und mehr als 150 000 Grenzgänger? Wer hat sie gerufen? Kommen da noch mehr?

Juli 2011, Eurostat veröffentlicht neue Bevölkerungsstatistiken. Die Presse tut so, als ob EU-Beamte unsere Babys, unsere Verstorbenen, unsere Einwanderer neu gezählt hätten. Dabei handelt es sich um bereits bekannte Statec-Daten „mit euro[-]päischem Anstrich“, was die Zahlen nicht besser, nicht schlechter und auch nicht bedrohlicher macht. Kaum sind die Informationen im Umlauf, werden sie kommen-tiert, und das ist gut so. Allerdings spürt man in vielen Kommentaren eine große Unsicherheit, diffuse Zukunfts- und Berührungsängste, auch Unverständnis, Frustration, Ablehnung und sogar Fremdenfeindlichkeit. In einem Spiegel-Beitrag1 vom 1. August 2011 steht Folgendes: „Ideen und Worte haben Folgen. Immer. Doch in einer offenen Gesellschaft ist ihnen nicht beizukommen. Außer mir Ideen und Worten“. Luxemburg ist ein kleines Land...

1 „Der Terrorist und die Brandstifter”, Der Spiegel Nr. 31/2011
Claude Gengler
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