Tom Haas: Verlassen wir mal die platonische Vorlage und reden konkret über Luxemburg. Hier ist die Situation ja nochmal eine völlig andere, da sich die Profession des Kritikers als solche nie herausgebildet hat: Die Kritikerinnen hierzulande sind immer gleichzeitig Journalistinnen, Lehrerinnen oder Künstlerinnen, die nebenbei noch kritisieren. Und ja, das sind generische Feminina, die Männer sind mitgemeint. Ich denke da an meinen Kollegen Jeff Schinker, der zwischen allen Rollen oszilliert und damit auch den kritisierten Künstlern eine dankbare Angriffsfläche bietet. Sie können ihm Interessenskonflikte unterstellen, ohne sich mit seiner Kritik auseinandersetzen zu müssen. Braucht Luxemburg Berufskritikerinnen, um die im Akt zuvor erwähnte Distanz zu wahren? Ist das in diesem ökonomischen Umfeld überhaupt möglich? Brauchen wir eine staatliche Förderung der Kunstkritik im Fahrwasser der angestrebten Professionalisierung und Internationalisierung der Kulturszene? Oder erreicht unsere Kulturszene nicht die notwendige Größe, die einen kritischen Diskurs überhaupt erst ermöglicht?
Marc Trappendreher: Kurz sind die kommunikativen Wege in einer Kulturlandschaft, in der jeder jeden kennt. Schaut man sich etwa die frühe kritische Rezeption des luxemburgischen Filmschaffens – besonders der Achtziger- und frühen Neunzigerjahre, der Weg aus dem Amateurismus hin zu einer Professionalisierung der Filmindustrie – genauer an, lassen sich zwei grobe Tendenzen ausmachen: Zum einen tönte da der Nationalstolz, dass das eigene Land nun auch das Filmschaffen ex nihilo in Angriff nimmt – entschlossen, risikobereit. Dahinter stand ein Verständnis der filmkritischen Begleitung als Unterstützung: Aufmerksamkeit generieren, Mut machen. Zum anderen gab es eine sehr strenge Betrachtungsweise, die darauf aus war, höhere Ansprüche zu setzen und deren Vertreter entsprechend den Verriss nicht scheuten. Es war der Wunsch, aus der Destruktion eines Werkes sozusagen wieder Neues, Besseres anregen zu wollen.
Don John: Anders gesagt: Luxemburg hat kaum eine Tradition der Kritik. Das ist völlig normal für ein kulturhistorisch gesehen relativ junges Land, das sich in vielen Bereichen noch auf dem Weg zur Professionalisierung befindet. Allzulange galt, dass Rezensionen entweder wohlgemeinte Werbetexte für einen Intendanten, Regisseur oder Verleger, mit dem man die Schulbank gedrückt hat waren - oder aber nüchtern-deskriptive Beamtenberichte. Hauptsache nichts Wertendes, Hauptsache niemandem auf die Füße treten. Problematisch ist aber, dass sich das bis heute nicht grundlegend geändert hat – und man auch nicht den Eindruck hat, dass jemand diese Veränderung will. Wer blasphemisch genug ist, an Luxemburger Szenegötzen Kritik zu üben, bekommt gerne mal eine wütende Textmeldung oder wird nach einem Glas Wein an der Bar von einem Intendanten gebeten, das Theaterhaus doch bitte schnellstmöglich zu verlassen. Man wäre gerne unter sich.
M.T.: Es fehlt schlicht an kritischer Masse, da diese beiden von mir erwähnten Tendenzen ein Kräfteverhältnis erkennen lassen, das sich gerne auf eine ‘one-to-one’-Situation festigt. Jener Künstler tritt in ein enges Rezeptionsverhältnis mit jenem Kritiker. Jener Kritiker ist jenem Künstler besonders wohlgesinnt, weil er an ihn glaubt, ihn persönlich kennt, ihn fördert. Dieser Kritiker will diesem Künstler keinen größeren qualitativen Wert zugestehen, will partout keine Entwicklung bei ihm sehen. Hat sich dieses Kräfteverhältnis denn überhaupt gewandelt?
D.J.: Dieses Unter-sich-Bleiben hat nicht nur den inzestuösen Tonfall einer ADR-Rede von Fred Keup: Es zeugt vor allem von einer kollektiven Unsicherheit gegenüber dem eigenen Schaffen, vom vielseits theoretisierten Minderwertigkeitskomplex der zwischen den Kulturgiganten Frankreich und Deutschland eingepferchten Zwergnation Luxemburg, die ihre kulturelle Jugend – eigentlich ein Vorteil – nicht etwa zur Emanzipierung nutzt, sondern sich in den Schatten der Nachbarn stellt. In diesem Schatten gedeihen Frust und eine Art kranker Stolz, der jede Kritik als feindselig abstempelt. Das daraus wachsende Wir-gegen-Die-Denken, in dem der böse Kritiker höchstens dazu dient, das Team im gemeinsamen Hassgefühl zusammenzuschweißen, verhindert allerdings jeden möglichen Dialog. Um also auf deine Frage zu antworten: Nein, das Kräfteverhältnis hat sich kaum gewandelt.
T.H.: Spannende These, auch wenn du Lacan damit etwas überstrapazierst. Aber nehmen wir diese kollektive Unsicherheit angesichts der kulturellen Impotenz einmal als gegeben an - ist Kritik dann nicht das Potenzmittel schlechthin? Nichts adelt doch kulturelles Schaffen mehr als der Umstand, dass es jemandem eine Zeitungsseite wert ist, sich darüber auszulassen? Ich glaube, du bist auf der richtigen Spur, aber die Unsicherheit ist tiefer zu verorten: Die kulturelle Jugend umfasst auch die nicht vorhandene Tradition der Kritik, die sich ebenso im Schatten der großen Anderen sieht. Wir reden hier mit unserem importierten Wissen von großen Denkern, denen wir in ausländischen Wissenstempeln Vorlesung für Vorlesung huldigten. Nun echauffieren wir uns, zurück in der Heimat, bei einem Espresso Martini über die hiesige Provinzialität, indem wir die Großen imitieren. Genau wie die Akteure der Kulturszene - und das alles, um erfolgreich Förderungen einzuwerben, die von unseren Behörden und Ministerien verteilt werden wie Schokolade am Sankt Nikolaustag. Ja, in Luxemburg werden Stücke gefördert, die in Deutschland niemand auch nur ansehen würde. Wahr ist aber auch: In welchem Land dieser Welt dürften drei Typen über drei Zeitungsausgaben jeweils eine Doppelseite lang eine kulturtheoretische Debatte versuchen loszutreten? So viel Platz hat Habermas nicht mal im Historikerstreit von der Zeit bekommen.
D.J.: In Frankreich wird immer wieder befürchtet, dass die exception culturelle ad acta gelegt wird, hierzulande gibt es deiner These nach die exception luxembourgeoise: Im Vergleich zum Ausland verfügen wir über unverschämt viel Platz für kulturtheoretische Debatte und über unverschämt viel Geld für Stücke, die woanders allenfalls als unfertige Werkstattinszenierungen gelten würden. Aber was machen wir mit dieser Freiheit? Im Endeffekt recht wenig, ausser dass wir uns in Debatten verzetteln, die meist Lektionen in Sophismus sind. Über Kritik in Luxemburg reden ist fast wie das Durchblättern eines Kataloges an Paralogismen. Letzten Sommer gab es ein vom CNL organisiertes Gespräch über Literaturkritik, wo wilde Thesen wie „Die beste Kritik ist ein Verriss“ (Schmartz) oder „Luxemburgische Literaturkritik ist wie Nietzsches Gott: tot“ (Schinker) als Prämissen einer Debatte dienten. Irgendwann meinte ein auf seine alten Tage immer mehr zum griesgrämigen weißen Mann mutierender Luxemburger Schriftsteller, in Bezug auf eine Rezension einer jungen Kritikerin, die er Monate später im Land dann auch pseudofiktional attackierte, ein (in Wahrheit absolut ungenießbarer) Roman eines Kollegen könne gar nicht als „Macho-Müll“ definiert werden, weil er den Autoren persönlich kenne und wisse, dass dieser im wahren Leben weder ein Macho, noch so misogyn wäre, wie es die Kritikerin im Werk herausgelesen haben wolle. Abgesehen davon, dass es in der Kritik um strukturelle Frauenfeindlichkeit und rape culture ging, es zwischen Absicht und Lebenspraxis eine verheerend große Kluft geben kann und der Künstler manchmal eben nicht der Mensch ist, zeigt sich in diesem Fallbeispiel sehr deutlich, wie die fehlende Distanz die Kulturmonaden Luxemburgs zu emotionalen Reaktionen verleitet, bei denen das Werk auf der Strecke bleibt.
M.T.: Kommen also hier zwei Sachen zusammen? Die fehlende Distanz aufgrund der zu engen persönlichen Bindungen und die grundlegende Abwesenheit einer kritischen Masse? Hierzulande besteht ein besonders ausgeprägtes Phänomen des Interessenkonfliktes, das sich aufgrund der angeführten kritischen Masse und der damit verbundenen größeren Unabhängigkeit in dieser spezifischen Form im Ausland nicht stellt. Der Dialog zwischen Kunstproduktion und -rezeption wird so nicht gesünder – der Interessenkonflikt ist dem Künstler dann wieder eine ganz nützliche, aber ganz falsche Hilfestellung, die rhetorische Überhand zu nehmen und die eingangs angeführte Deutungshoheit zu beanspruchen. „Alles kann und wird gegen Sie verwendet werden“ - braucht der Kritiker in Luxemburg bald einen Anwalt?
T.H.: Ich hoffe, der Anwalt bleibt uns erspart, unser Innenminister hat ja neulich erst das ausgeprägte Kultur- und Kritikverständnis hiesiger Spitzenanwälte unter Beweis gestellt.
D.J.: Eine Marktlücke für Gaston Vogel?
T.H.: Der erkennt ja nicht einmal ein Plagiat, wenn man es ihm um die Ohren haut.
D.J.: Apropos Interessenskonflikte: Dass Schriftsteller überall auf der Welt Literaturkritiken veröffentlichen, weil sie über eine gewisse Sensibilität gegenüber dem literarischen Gegenstand verfügen, gegebenenfalls Literaturwissenschaften studiert haben und somit eigentlich am besten über literarische Werke schreiben und urteilen können, stößt hierzulande immer dann auf taube Ohren, wenn es jemandem gerade nicht in den Kram passt, dass dieser oder jener Autor auch Kritiken verfasst. Dann heißt es, als Autor dürfe man sowas nicht. Das wäre ein Interessenskonflikt. Hakt man nach, wie dieser Interessenskonflikt denn in diesem Falle definiert würde, meint die Person, sie würde damit meinen, was sie gerade gesagt habe. Ein wunderbarer paralogistischer Kreis, der in Luxemburg von selbsternannten Deontologie-Experten fern jeder Argumentationskraft zementiert wird. Elise Schmit und Samuel Hamen haben früher selbst auch Luxemburgensia rezensiert - und man kann leider verstehen, wieso sie es mittlerweile nicht mehr tun. Schade ist es trotzdem.
T.H.: Schreibst du deshalb unter Pseudonym? Bist du in Wahrheit etwa Nico Helminger, der sich schon wieder ein Alter Ego zugelegt hat, um nun auch in der Literaturkritik mitmischen zu können?
D.J.: Oder Menn Malkowitsch? Wer ich bin - darüber lasse ich am besten andere diskutieren. So langsam weiß ich es selbst nicht mehr.
T.H.: Vielleicht ist das sogar kurzfristig eine Lösung. Wir sollten die Kritik stärker anonymisieren. Damit ist das argumentum ad hominem aus der Welt geschafft: Niemand kann dem Kritiker vorwerfen, er wolle sich profilieren, wenn er nicht als Person in Erscheinung tritt. Und auch Interessenskonflikte würden sich ins Spekulative verflüchtigen. Damit würden wir die Debatte quasi dazu zwingen, sich auf den Inhalt zu verlegen, ähnlich wie bei den Peer-Reviews in akademischen Veröffentlichungen.
M.T.: Die Beziehung zwischen Künstler und Kritik ist gerne eine der Hassliebe, da einer den anderen braucht. Ist eine Rezension positiv, so nimmt man sie als Künstler dankend an, jede positive Besprechung, egal aus welchem Blickwinkel, trägt zu einem reicheren Diskurs bei, wertet die Arbeit in der Folge auf. Ist sie negativ, so nimmt oftmals der Kampf um die Deutungshoheit seinen Lauf - der Künstler unternimmt diesen Versuch der Vormachtstellung indem er mit einem abwehrenden Schutzreflex die negative Kritik ablehnt. Wie könne der Kritiker das Werk besser fassen können als der Autor? Wie kann er sich anmaßen, die Aussage eines Werkes durch seinen Blick selbst zu bestimmen? Überhaupt stehen Interpretationsansätze heute in Verruf, in die Überinterpretation zu gleiten, je mehr sie sich von festen Anhaltspunkten rund um den Künstler, seiner Vita oder seinen eigenen Aussagen etwa, entfernen. Mithin sieht sich die Kritik dann wieder unter höherem Legitimationsdruck.
T.H.: Gibt es denn dafür irgendwelche Gegenbeispiele?
M.T.: Die Beziehung etwa zwischen Alfred Hitchcock und der Presse waren entscheidend für die Rezeption Hitchcocks als großer Filmautor, noch bevor der Begriff in Frankreich überhaupt geboren war. Hitchcock wusste die Presse zu nutzen, um seine eigene Marke zu kreieren – die von der Cinémathèque de la Ville de Luxembourg herausgegebene Publikation Hitchcock - The Brand legt davon eindrücklich Zeugnis ab. Es ist das wohl filmhistorisch prominenteste Beispiel eines doch sehr fruchtbaren Spiels der beiden Seiten, das auf die Kunstfertigkeit ausgerichtet war.
D.J.: Ein Luxemburger Gegenbeispiel wäre hier der Fall Serge Tonnar, wütet der doch ständig auf sozialen Netzwerken, wenn er den Eindruck erhält, man würde ihn oder einen seiner Protégés verreißen oder, schlimmer noch, ignorieren. Genauso suspekt erscheint es aber im Dorf Luxemburg, wenn jemand den Fokus auf das Werk eines Kulturschaffenden legt, weil er daran glaubt – siehe den Fall Josée Hansen und Filip Markiewicz, nachzulesen in Hansens Piccolo mondo. Liest man sich heute durch das Luxemburger Feuilleton, oder das, was nach den Sparmaßnahmen und Sozialplänen in der nationalen Presselandschaft noch davon übriggeblieben ist, erhält man den Eindruck, dass Kritiker sich kaum noch trauen, zu schreiben, was sie denken, also ihre analytische Arbeit so zu verrichten, wie es ihr Berufsstand eigentlich verlangt. Sie befürchten, dass eine ganze Horde an Produzenten sie öffentlich anprangert (ich denke an den Fall Joy Hoffmann versus Little Duke) oder man ihnen eben Favoritismus vorwirft. Anstatt mit dem Kritiker, bei dem Tonfall und Inhalt in der Tat oft fragwürdig sind, in den Dialog zu treten, verbandelt sich eine Masse an Kulturschaffenden, die ihr Herzblut in das Projekt gesteckt haben und sich erbost zeigen, dass dies nicht überall in der Presse anerkannt wird. Liebe Kulturschaffenden: Wir Kritiker gehen davon aus, dass Ihr Herzblut in Eure Arbeit steckt. Das allein verdient aber noch lange keine Lobhudelei – es ist sozusagen die Grundbedingung, damit wir über eure Werke reden. Andernfalls würde nämlich kein Produzent eure Filme finanzieren, kein Verleger eure Bücher veröffentlichen, kein Intendant eure Stücke auf die Bühne bringen. Und auch kein Kritiker euch kritisieren.