Jene, die glauben, alles über Goethes achttägigen Aufenthalt in Luxemburg zu kennen, werden beim Lesen von 1792 Goethe in Luxemburg, einem heimatkundlichen Meisterwerk, schleunigst eines Besseren belehrt. Dass das Großherzogtum Luxemburg mehrere berühmte Persönlichkeiten, darunter einige große Schriftsteller wie, beispielsweise, Ernest Hemwingway, Victor Hugo und, nicht zuletzt, Johann Wolfgang von Goethe, maßgeblich inspiriert hat, ist gewusst. Im Rahmen eines Feldzuges, der ihn nach Frankreich führte, machte der Dichterfürst zwei Abstecher in unser Land. Nach der sogenannten „Kanonade von Valmy“, und nachdem er die damit verbundenen, schlimmen Erfahrungen der Kriegsgrauen (Plünderungen, Ausschreitungen, Verwüstungen) verdaut hatte, trat der weltberühmte Literat in Begleitung von Nikolaus Liser, einem luxemburgischen Husaren, im Oktober anno 1792 ohne nennenswerte Hindernisse die Rückreise von Lothringen nach Luxemburg an. Am meisten prägte ihn dabei der Ausflug ins Dreiländereck zum Schengener Freiheitsbaum, auf dem zu lesen steht : „Passant, cette terre est libre“.
Bei keinem anderen als Goethe, dem bedeutendsten und angesehensten unter allen deutschen Schriftstellern, bilden Geschichte, Biografie und Literatur eine solch enge Allianz. Daraus ergibt sich, dass der Start der geistigen Reise, die das Buch versinnbildlicht, nicht außerhalb der Monografie, sondern mittendrin liegt. Man kommt nicht von außen, man befindet sich unmittelbar in medias res, im eindringlich geschilderten, damaligen Geschehen und Leben. Man kommt nicht als Tourist, der sich lediglich die Highlights herauspickt. Man ist sofort unterwegs, mal als Neugieriger, der sich völlig entspannt treiben lässt, mal als Abenteurer, der ungeduldig allem entgegensieht, was ihn auf der nächsten Seite erwartet.
Zugleich bekommt der Leser ein Feingefühl für sprachliche, raumzeitliche und, nicht zuletzt, ideologische Eigentümlichkeiten, welche der französischen Revolutionszeit eigen sind. Ihm werden Mentalitäten und Gepflogenheiten einprägsam nahegebracht, und die Reize der damaligen Kulturen und Weltanschauungen, aufgrund von Zeitzeugnissen und Zeugenaussagen, wahrhaft sowie lebhaft vermittelt. Erstaunlich dabei ist, dass er die visuelle Komponente, sprich das ungemein reichhaltige ikonographische Material, nicht nur gar nicht vermisst, sondern, deren echtem Wert entsprechend, zu schätzen weiß.
Dass der Verfasser auch um heikle Themen keinen Bogen schlägt, zeigt sich zum Beispiel in dem Bemühen, das „Kind des Friedens“, wie Goethe sich in der Italienischen Reise selber bezeichnet, als Kriegsteilnehmer erscheinen zu lassen (S. 97). Zudem reihen sich Goethe-Zitate, Stimmungsbilder sowie Lebens- und Kriegsberichte nahtlos ein in eine Reihe nackter Begebenheiten. Die daraus entstehende eigentümliche Mischung der Stimmen (wenn der wohlwollend geneigte Leser uns diese musikalische Metapher erlaubt), gleichwohl sie von Klangfarbe und Fundus her gut zu unterscheiden sind, und den Figuren und Geschichten beispielsweise Anekdoten Charakter verleihen, begünstigt eine Atmosphäre, die etwas Ursprüngliches, Authentisches erzielt. Von jener kulturhistorischen Weitsicht zeugende Beispiele liefert der Text denn auch zuhauf. So, das Kapitel „Auch ich in der Champagne“ (S. 97), das, später als wichtiger Bestandteil in Goethes Selbstbiografie Dichtung und Wahrheit, einen bevorrechtigten Platz einnehmen wird. Oder „Das Konvulat zur Farbenlehre“ (S. 181), und viele andere.
Zum originellen Konzept des Buches gehört die reiche Bebilderung, dank deren uns nicht nur der hohe Reisegast, auf Hochglanzpapier, leibhaftig vorgestellt wird, sondern sich auch, mittels der zahlreichen Abbildungen seines Umfelds, eine eigentümliche Stimmung einstellt – nicht billig lockend, sondern wertvolle visuelle Sinneseindrücke vermittelnd, welche textlich ihre Vertiefung erfahren. Schon der Umschlag dient nicht bloß Dekorationszwecken. Wenn man ihn abnimmt und aufschlägt, erscheint er als eine Darbietung ansehnlicher und anschaulicher Tatbestände bezüglich Goethes Durchreise durch Luxemburg. Doch wirkt diese mosaikartige Kurzübersicht nicht krampfhaft überladen, sondern gleichermaßen kunstvoll, chronologisch wie logisch ineinander verwoben.
Schlichtweg „zum Einrahmen“ ist das aufschlussreiche, herrliche, reich bebilderte, in Leinen gebundene Luxusalbum des empathischen und von dem geistigenVerlangen, sich in Goethe einzufühlen beseelten Duo Hein-Groben. Vom Letztgenannten auf kluge, weiterführende, auf den neuesten Stand bringende Gestaltungsart, völlig neu bearbeitet und um rund 100 Seiten beträchtlich erweitert, hat der Originaltext von seinem Schwiegervater, seit der fast 100 Jahre zurückliegenden Erstveröffentichung, nicht nur keineswegs an Popularität eingebüßt, sondern ein, wie ich meine, neues, tonangebendes Sprachrohr gefunden, das man so leicht nicht vergisst. Dank ausschlaggebender Ergänzungen lässt der Schwiegersohn nicht nur „Heins wissenschaftliches Lebenswerk“ neu aufleben, er macht es „der heutigen Generation wieder zugänglich“ (Einführung, S. 7), und zwar so, dass es durchaus lohnt, Goethes luxemburgische Erfahrungen wiederzuentdecken. Nicht, dass hierbei eine Erzählung gegen den Strich gebürstet wird, es sind vielmehr kleine Details, kostbare Anekdoten sowie wichtige Fakten, welche die Neuauflage in einem vollkommen neuen Licht erscheinen lässt.
Nikolaus Heins monumentaler Ansatz findet in Joseph Groben einen weiteren begnadeten Erzähler, der nicht nur Goethe als Hauptfigur, sondern allen beteiligten Figuren auf subtile aber markante Weise eine spezifische Stimme verleiht, und somit ihre Charaktere und Verhaltensweisen vor unseren Augen glaubhaft macht.
1792 Goethe in Luxemburg ist wahrlich ein dicker Schinken, der aber durch seine sorgfältige Edition und Aufmachung besticht. Das Gesamtbild ragt durch eine vorzügliche Übersichtlichkeit heraus. Auch standen dem Herausgeber für seine bemerkenswerte Arbeit nicht nur moderne, drucktechnische Mittel, sondern, darüber hinaus, neue zeitgenössiche Quellen zur Verfügung, die ihm eine nahezu lückenlose Geschichtsschreibung gestatten, und ihm die Fähigkeit zusichern, über Gegebenheiten zu berichten, die manch erhellenden Blick auf von seinem Vorgänger Unterlassenes beispielsweise Verschwiegenes ermöglichen, worauf, übrigens, das informative Vorwort (1925/1961) zur dritten Auflage (S. 9) verweist.
Ansonsten, und alles in allem betrachtet, ist das hier besprochene Buch ein Glücksfall. Und dies nicht nur wegen der wunderbar glaubwürdigen und treuen Wiedergabe der Fakten, sondern auch und vor allem wegen der einfühlsamen Einstellung der beiden Erzähler zum vergangenen Geschehen. Deren beispielhafte Vortragsleistung zu würdigen hieße Eulen nach Athen zu tragen.