Dem Politiker ist er Dissident, dem Künstler ein Neider, dem Aktivisten schlicht ein Feind: Der Kritiker steht im öffentlichen Diskurs zusehends isoliert. Dabei ist Kritik kein Luxusgut, sondern Grundbedingung für Erkenntnis. Sagen zumindest diese drei Kritiker. Dabei sind sie sich nicht einmal einig, was Kritik eigentlich ist. Eine dialogische Erkundung
Tom Haas: Sind wir eigentlich überflüssig, wir Kritiker? In Deutschland wurden Kollegen von Intendanten mit Hundekot beworfen, in den USA wird die Redaktion von Pitchfork eingestampft und auf Youtube nennt sich jeder Kritiker, der drei Sätze fehlerfrei aneinanderreihen kann. Wer braucht uns noch?
Don John: Falls wir Kritiker überflüssig geworden sind - wieso uns dann überhaupt noch mit Hundekot bewerfen? Ich habe viel eher den Eindruck, Kritik befände sich heute in einem dialektischen Zwischenraum. Zwischen maßloser Selbstüberschätzung und einem Demokratisierungsprozess, in dem jeder, der es vermag, einen Facebook-Thumb zu posten, zum (selbsternannten) Kritiker wird. Zwischen dieser übertriebenen Wahrnehmung und dem Verfall in die totale Belanglosigkeit riskiert das Wörtchen Kritik auf einmal, alles und rein gar nichts zu bezeichnen. Vielleicht muss der Begriff geschärft oder zumindest hinterfragt werden?
Marc Trappendreher: Sollten wir dann mit einer groben Definition des Begriffs beginnen?
T. H.: Marc, wir schreiben keinen wissenschaftlichen Aufsatz!
M. T.: Aber dann legen wir uns keine Basis, oder? Zumindest eine etymologische Exkursion?
D. J.: Überlassen wir das lieber Jean Portante und seinem Wuert vun der Woch.
T. H.: Wenn wir eine Definition hätten, wäre das Nachdenken über Kritik ja bereits eingezäunt. Das wollen wir doch vermeiden. Für mich zum Beispiel ist Kritik immer eine gewisse Anmaßung. Sie muss sich anmaßen, etwas zu beurteilen - auch etwas, das sie nicht vollständig durchdrungen hat. Der von Don erwähnte dialektische Zwischenraum ist eigentlich ein wunderbarer Ort, weil er dem Kritiker eine Bewegungsfreiheit im Denken verschafft, die ohne ideologischen Anker funktionieren kann. Und ich glaube, dass diese Nicht-Verortung das ist, was sowohl den Lesern als auch den Künstlern - und vielleicht auch dem Kritiker selbst - ein mulmiges Gefühl in den Bauch pflanzt. Anmaßend, unvollständig und unverortbar agiert sie als Puzzlestück, welches die Wahrnehmung eines Werkes erweitert - aus teilweisen überraschenden Blickwinkeln.
M. T.: Mit dieser Vielzahl an heute gängigen Blickwinkeln ist auch eine generelle Verlagerung des kritischen Diskurses zu beobachten: Durch neue Medien haben sich die Erwartungen an Kritik maßgeblich verändert. Die Informations- und Serviceleistung verleihen der Kritik, besonders im Internet, den Charakter einer Dienstleistung. Die Analyse als Methode hin zur Werkinterpretation, die ästhetische Phänomene aufschlüsselt und verständlich macht, rückt in den Hintergrund. Kritik als eigenständige künstlerische Disziplin, die den Erlebnisraum eines Kunstwerks über das Buch, die Theaterbühne, die Leinwand hinaus erweitert, gerät in Vergessenheit. Die Kritik sollte idealtypischerweise in der Lage sein, einen Medientransfer zu leisten. Sie sollte eine Übersetzungsleistung in Form essayistisch geprägter Texte anstreben, das Erlebnis des Kunstwerks in die Kritik hinein verlagernd und erweiternd. Demgegenüber steht die Krankheit der Sternchen und Daumen, eines zwanghaften, nicht definierten, normativen Bewertens, das der reinen oberflächlichen Orientierung dient, der Spiegelung einer groben Tendenz.
D. J.: Interessanterweise ist es die von dir erwähnte Sternchen- oder Daumenkrankheit, die zum diskriminatorischen Faktor wird, bzw. es erlaubt, die Selbsteinschätzung des Feuilletons oder des Magazins zu bestimmen. Weder die Spex noch die Cahiers du cinéma hätten sich je dazu herabgelassen, Filme oder Platten mit Sternchen zu versehen. Ich muss zugeben, dass ich Peter Bradshaws Filmkritiken im Guardian vielleicht auch deswegen so wahnsinnig überbewertet finde, weil er sich meiner Meinung nach zu sehr auf seine Sternchen verlässt und dabei manchmal vergisst zu begründen, wieso er einen Film nicht empfiehlt. Dass das Wort in Filmrezensionen mittlerweile auf ein Filmrating zurückgreift, könnte ein Hinweis auf das eigene Selbstverständnis sein: Dienstleistung kommt vor dem Aufschlüsseln der formalen Eigenart des Werks, vor der Ausweitung seiner Erlebnisräume, vor der tiefgründigen Analyse.
T. H.: Kritik ist aber auch eine Dienstleistung. Nicht jeder Mensch, der ins Kino geht, ein Konzert besucht oder ein Buch liest, will dieses Werk intellektuell, ästhetisch oder emotional durchdringen. Adornos These der Kulturindustrie schließt die Kritik mit ein. Wir kritisieren Kulturwaren und unsere Kritik ist letztlich auch ein Produkt, eine Ware oder eben eine Dienstleistung. Ein Kritiker, der glaubt, durch die Qualität seiner Expertise dem Werk etwas hinzuzufügen, der schreibt am Ende nur für sich selbst. Nicht, dass ich das verurteilen würde - die Freude an der Auseinandersetzung mit Kunst ist natürlich bereichernd. Aber es ist nicht die einzige Art, Kritik zu üben. Kritik darf auch oberflächlich sein, sie darf sogar der Unterhaltung dienen. Deswegen würde ich nicht von einer “Krankheit der Sternchen und Däumchen” reden - es ist einfach nur eine andere Art, sich einem Werk zu nähern, die auch ihre Leser und Hörer findet. Und wenn ein Musikmagazin wie Pitchfork eines gezeigt hat, dann ja wohl, dass die numerische Bewertung von und das intelligente Schreiben über Kunst auch perfekt zusammen funktionieren können.
D. J.: Teilweise einverstanden. Bei Pitchfork erscheint mir der Zusammenhang zwischen einer Bewertung und der Kritik sehr oft unschlüssig: Wieso die neue Platte von Iron and Wine 7.7 von 10 Punkten, das neue Album von St. Vincent 7.8 bekommt, ist in seinem überspezifischen Versuch, einen Kausalnexus zwischen Musik, Text und Zahl herzuleiten, fast wieder selbstentlarvend. Klar ist unsere Kritik auch ein Produkt - wir leben halt in den Zeiten von Fishers Capitalist Realism: Es gibt nichts mehr, das kein Produkt ist. Und tatsächlich gibt es eine Reihe an Werken, die gar nicht intellektuell oder ästhetisch durchdringbar sind, weil sie schlicht und einfach als reines Konsumprodukt angelegt sind.
T. H.: Hey, Fisher zu zitieren ist mein Job! Ich muss doch auch intelligent wirken dürfen in diesem Text!
D. J.: Du hattest doch bereits Adorno! Sei nicht so gierig!
M. T.: Ich denke, grundsätzlich ist ein Nebeneinander des publizistischen Diskurses wünschenswert, sofern damit die Aufmerksamkeit auf das Kunstwerk geleitet wird. Den Reichtum der Diskussion gibt es nur, wenn sich die diversen Quellen nicht gegenseitig behindern oder ersetzen. Die ‘Sternchen und Däumchen’ sind in ihrer reduktionistischen Dimension dann ein Problem, wenn sie den analytischen und interpretatorischen Umgang mit Kunst überschreiben. Sie sind eine reine Dienstleistung die dem Kunstwerk als solches nicht gerecht werden kann.
T. H.: Toll, Marc wirkt auch intelligent, wenn er niemanden zitiert. Formulier das mal so, dass auch Nicht-Filmwissenschaftler dich verstehen!
M. T.: Däumchen sind unsinnig, wenn sie nur Däumchen sind. Formelhafte Phrasen sind unnötig.Wir brauchen auch textkritische Begleitung. Ohne diese bewegen sich verkürzende Einordnungen in den engen Grenzen einer hermetischen Blase und sind dann genauso belanglos wie das alltägliche Gespräch über das Wetter. Die Servicefunktion ersetzt interpretatorische Ansätze und die Sensibilisierung für die Ästhetik eines Kunstwerkes mit Fan- oder Halbwissen. Die Folge ist eine radikale Reduktion einer komplexen Kritik auf reine Gebrauchsformeln, die sich leerer Floskeln bedienen, die so nicht hinterfragbar, diskutierbar, streitbar sind.
D. J.: In der Reduktion von Kritik auf Gebrauchsformeln, in denen Begriffe wie “Mise en scène” ihrer Bedeutung leergesaugt werden, sehe ich den inhärenten Widerspruch dieses Demokratisierungsprozesses: Einerseits wird Umberto Ecos Enzyklopädie, früher ein Zeichen von Bildung und Wissen, heute als das Merkmal einer intellektuellen Elite gehandhabt, die in ihrer Blase an der marktwirtschaftlichen Realität vorbei diskutiert, andererseits wird sich aber einiger Schlagwörter bedient, die wie Didi-Hubermans Gespenstschrecke den kritischen Diskurs nachahmen, ohne aber mehr als das zu sein, was Roman Jakobson unter der phatischen Funktion der Sprache verstand. Der Begriff ist nur noch Geräusch, dient im besten Falle als Identitätsträger: Weil ich von “Mise en scène” rede, muss ich wohl geschulter Film- oder Theaterkritiker sein.
M. T.: Die Kritik als kulturtheoretische und ästhetische Disziplin - im engeren Sinn - muss die Kunst der Formulierung beherrschen, sie muss präzise Worte finden und übergreifende Beziehungen herstellen, die die Fachkompetenz und ein Vorwissen erkenntlich machen. Sie muss Denkkonzepte eröffnen, sie muss den Stellenwert eines Kunstwerkes in einem Œuvredes Kunstschaffenden einordnen können, in Relation zu diesem setzen, aber auch darüber hinaus das Werk in einem historischen, politischen, kulturellen Kontext verorten. In diesem Sinne sind erwartungsgeprägte Kritiken gefährlich, wenn sich das Launische, das Situationistische, das Subjektivistische einschleicht.
D. J.: Die Herangehensweise an die Kritik auf Rezeptionsebene wie auf Produktionsebene ändert sich mit der Zeit, mit dem Format, mit dem Zeitgeist. Kritik ist nicht gleich Kritik, und je mehr Bedeutungsschichten der Begriff kumuliert, desto unsinniger riskiert er zu werden. Im Bereich der deutschsprachigen gedruckten Musikkritik gab es vor circa zehn Jahren einen erheblichen Unterschied, ob man die Visions, den Musikexpress oder die Spex las. Die Selbstdefinition und Funktion der Kritiker variierte von Presseorgan zu Presseorgan - und die Erwartung des Lesers auch. Von der Visions holte ich mir musikalische Empfehlungen in Genres wie Postrock, Postmetal oder Noiserock, die Spex las ich vorerst wegen der tollen Artikel - dass sie meinen musikalischen Horizont erweitert hat, war erstmal zweitrangig.
T. H.: Vielleicht ist der Begriff auch überlebt, weil wir “Kritik” heute generell als etwas sehen, das wir abzuwehren versuchen. Eine “positive Kritik” ist in manchen Ohren heute schon ein Oxymoron. Und ich glaube auch, dass diese Ausdärmung des Begriffs eine Begleiterscheinung der generellen Verflachung des Diskurses ist. Treten wir mal einen Schritt aus unserem Elfenbeinturm heraus: Differenzierung ist auch in der politischen Auseinandersetzung out. Und mit der zunehmenden Personalisierung politischer Positionen wird Kritik auch immer zu einem persönlichen Angriff. Man bedenke,wie indigniert Léon Gloden auf das Gedicht des Nationalbarden Serge Tonnar reagiert hat. Und wie genau dieser Serge Tonnar reagiert, wenn man seine kreativen Schöpfungen nicht für die Meisterwerke hält, die er zu erschaffen glaubt. Barthes hat einst den Tod des Autors ausgerufen, nur die Autoren weigern sich bis heute standhaft, den Löffel abzugeben. Sie werden im Gegenteil immer empfindlicher - und können das durch die Demokratisierung der medialen Kommunikation auch artikulieren. Wer sich früher über einen Verriss beschweren wollte, musste einen Leserbrief schreiben, heute tut es ein Post auf Facebook. Dafür muss man nicht einmal mehr innehalten, Luft holen und nachdenken. Wie soll in dieser Gleichzeitigkeit, in der Kritik und wütende Antwort, Shitstorm und Vergleichsmaterial nur Klicks voneinander entfernt liegen, noch sowas wie Differenzierung gedeihen, geschweige denn ein Klima für kulturtheoretische Überlegungen entstehen?
D. J.: In dem von dir angesprochenen Prozess der Demokratisierung, der ja lobenswerterweise alteingesessene Hierarchien auszuhebeln vermag, geht nicht nur diese Vielschichtigkeit, sondern auch Toms Idee der Anmaßung, die jedem Versuch innewohnt, etwas zu durchdringen, das sich diesem Durchdringungsprozess entziehen will, verloren. Ich erinnere mich an einen Kommilitonen, der nach dem Abspann von David Lynchs Inland Empire meinte, beim zweiten Durchlauf würde er den Film verstanden haben - als wäre Kritik ein Marathon und Lynchs Filmographie eine etwas komplizierte mathematische Gleichung, die man mit etwas Ausdauer und Geduld lösen könnte. Und ja, dem Ego des Kunstschaffenden sind heute kaum mehr Grenzen gesetzt, sodass sich die Vorwürfe der Kulturschaffenden, Kritiker würden selbst keine Kritik vertragen, schnell in einer kindlichen Endlosschleife egomanischer Projektionen verläuft. Der Verlierer dabei: Die Kritik als Kunstform.
T. H.: Also sind Kritiker heute nur noch intellektuelle Taschenspieler? Oder waren sie das vielleicht schon immer?
M. T.: Zumindest haben sich feste Bilder, etwa das des ‚Großkritikers‘, stark gewandelt oder sind ganz verschwunden. Die Vorstellung, dass ein Kritiker den Erfolg oder Misserfolg eines Werkes maßgeblich prägt oder bestimmt, ist Geschichte.
D. J.: Vielleicht war das Bild des Großkritikers ja auch eine Fiktion, die von ein paar (realen wie fiktionalen) Einzelfällen gespeist wurde. Und vielleicht könnte diese Entweihung der Kritik ja eine positive Seite haben, wenn es uns gelingt, die Gleichzeitigkeit von Kritik und Rezeption nicht nur für Shitstorms, wütende Antworten und persönliche Angriffe zu nutzen.
T. H.: Und wie das passieren könnte, erfahrt ihr in der nächsten Folge!
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