Dass in der Abgeordnetenkammer die Mehrheit einen Entschließungsantrag der Opposition mitträgt, kommt nicht oft vor. Am Dienstag unterstützte sie eine Motion der CSV-Fraktion. Darin wird die Regierung aufgefordert, keine Zeit zu verlieren, um der gesamten Bevölkerung ab zwölf eine dritte Corona-Impfdosis anzubieten. Bisher ist das nur für ab 65-Jährige und für Gesundheitsberufler so. Auch für Jüngere mit Vorerkrankungen wird der „Booster“ noch nicht empfohlen.
Die sehr einhellige Position der Kammer – es gab 58 Ja-Stimmen und eine Enthaltung – lässt es wahrscheinlich aussehen, dass die Altersgrenze für die dritte Impfdosis bald schon gesenkt wird. Vielleicht nicht auf zwölf Jahre, und vielleicht fällt der Beschluss nicht schon im Regierungsrat am heutigen Freitag: Da soll zunächst mit Expert/innen beraten werden, sagte LSAP-Gesundheitsministerin Paulette Lenert am Dienstag. Aber die dritte Impfung ist der für Luxemburg wohl einfachste und sicherste Weg, um durch die kalte Jahreszeit zu kommen, ohne die Krankenhäuser zu stark mit Covid-19 zu belasten und vielleicht auch ohne neue Einschränkungen auszukommen.
Noch ist die Corona-Lage im Land verhältnismäßig stabil. Der Schnitt der registrierten Neuinfektionen nimmt zwar zu, aber nur allmählich, und die Zahl der Patient/innen auf den Intensivstationen oszilliert seit drei Wochen bei um die zehn. Vor einem Jahr lag sie vier Mal höher, der Impfschutz wirkt offenbar. Dabei ist die Covid-Impfrate hierzulande nur EU-Durchschnitt. Laut EU-Seuchenschutzzentrum ECDC waren am Mittwoch 65,2 Prozent der Luxemburger Bevölkerung (ab zwölf) voll geimpft, in der EU 65,1 Prozent. Zählt man die bisher mehr als 81 000 von Covid-19 Genesenen hinzu, ist der Anteil der vor schweren Erkrankungen Geschützten vielleicht noch zehn bis 15 Prozentpunkte größer. Zusammengenommen ist das der aktuelle Immunvorteil.
Wie weit er auf die Bevölkerung bezogen genau reicht, und vor allem: in der nahen Zukunft reichen wird, ist für die Wissenschaft keine leicht zu beantwortende Frage. In Dänemark zum Beispiel, wo im September angesichts von mehr als 80 Prozent Impfrate alle Corona-Einschränkungen aufgehoben worden waren, wird seit Anfang des Monats die Wiedereinführung von Maßnahmen diskutiert. Sicher ist wohl, dass eine vollständige Impfung auch bei Ansteckung mit der Delta-Variante lange vor schweren Erkrankungen schützt. Doch der Übertragungsschutz beginnt ungefähr drei Monate nach der Impfung abzunehmen. Stecken im Frühjahr Geimpfte sich mit der Delta-Variante an, geben sie das Virus weiter, wenngleich das Zeitfenster kleiner ist als bei Ungeimpften. Die Virusmenge ist ebenfalls kleiner, aber nach dem Stand der Kenntnisse vielleicht nur 20 Prozent kleiner.
Das ist riskant. Zum Beispiel, wenn man bedenkt, dass bei den über 60-Jährigen in der Bevölkerung der Impfgrad 86,5 Prozent beträgt (ECDC vom Mittwoch). Denn es bleiben 13,5 Prozent von 128 000 oder 16 200 Personen, die ohne Impfschutz sind und altersbedingt ein höheres Risiko haben, schwerer an Covid-19 zu erkranken, falls sie sich anstecken.
Zieht man das in Betracht, dient die Booster-Impfung einerseits dem Selbstschutz: Laut einer Studie aus Israel etwa steigert die dritte Impfung ihn um den Faktor 20. Andererseits schraubt sie für wahrscheinlich einige Monate bei den drei Mal Geimpften den Übertragungsschutz erneut nach oben. Vielleicht lange genug, bis es nächstes Jahr wieder wärmer wird, bis dahin weiter geimpft wurde, beziehungsweise viele dem Coronavirus auf natürlichem Wege begegnet sind.
So gesehen, ist die Frage, ab wann man wem den Booster gibt, auch eine politische: Reicht der aktuelle Immunvorteil nicht mehr, könnten trotz Covid-Check eines Tages wieder Restaurants, Geschäfte und Kulturstätten geschlossen, Homeschooling und Telearbeit verordnet werden müssen. Was natürlich niemand will. Vermutlich war auch deshalb am Dienstag im Parlament der Konsens über die Booster-Motion der CSV-Fraktion so breit.