Heute loben wir die ideale Ferienlektüre. Vergessen Sie Krimis, Romane, romantische Lyrikbändchen und schweißtreibende Liebesgeschichten. Lesen Sie den „Text der Texte“, offiziell „Circulaire pédagogique pour la rentrée scolaire 2010/2011“. Dieses staubtrockene, von absolut humorfreien lebenden Büroklammern aus dem Bildungsministerium verfasste Fundamentalwerk mag Sie zunächst irritieren, wenn nicht gar nachhaltig verstören. Dann aber entdecken Sie nach und nach die grundlegenden Delikatessen und Raffinessen.
Eigentlich ist der unverdauliche Technokratenjargon in diesem berauschenden Rundschreiben ja ein Planungsfehler. Vielleicht auch ein Höflichkeitsfehler und ein Kommunikationsfehler. Aber wer spricht denn heute noch von Fehlern? Die Herrschaften aus dem Bildungsministerium jedenfalls nicht. „Il n’y a aucune raison didactique ni pédagogique de considérer et de corriger toutes les erreurs dans chaque travail“, dozieren die Fundamentalisten. Mais voilà! Bien hurlé, lion! Seien wir doch mal vernünftig. Das ganze Universum ist ein einziger Schöpfungsfehler. Wenn schon das Gröbste nicht zu beheben ist, warum sollen wir uns dann ins Labyrinth der letzten Fehlerverästelungen begeben?
Früher war die Schule ein paradis de la paresse, gibt uns die Bildungsministerin zu verstehen. Die gesamte Lehrerschaft lag pausenlos auf der faulen Haut, eine Sanktioniermafia in Lauerstellung. Diese Schulgefängniswärter wurden nur putzmunter, wenn sie ihre heiligen Rotstifte betätigen durften. Nichts taten sie lieber, als mit ihren ständig scharfen Rotstiften in zarten Kinderherzen herumzubohren, bis alles Herzblut unrettbar vergossen und vergeudet war. Heute ist der Rotstift zum Glück passé (übrigens auch bei der LSAP, wo längst nur mehr mit Schwarzstiften hantiert wird, sehr beherzt, muss man sagen). Heute, nach der Reform, ist die Schule zackzack ein fehlerfreier Raum. Wer heute noch einen Fehler rundkriegt, muss schon ein sehr begabter Zeitgenosse sein.
Diesen neuen kollektiven Glückszustand möchten wir kurz exemplifizieren. Früher mahnten die Kinderversteher: „Man rülpst nicht beim Essen.“ Allein an der Satzkonstruktion können wir erkennen, wie tragisch antiquiert damals schon die Pädagogen waren. Denn der aufgeklärte Reformpädagoge mit Kompetenzführerschein würde sich hüten, auch nur andeutungsweise das schwer belastete Wort „nicht“ zu gebrauchen. Man sagt einfach nicht mehr nicht. Man sagt dem Rülpser: „Wie du das schaffst, dieses klanglich optimal gestützte Spontanventilieren, das ist schon sehr beeindruckend!“ Und klaut der Rülpser zufällig auch noch das Pausenbrot seiner Kommilitonin, spricht der vollreformierte Idealpädagoge: „Die sozial gerechte Umverteilung aller irdischen Güter sollte unser höchstes Ziel sein, das hast du uns ganz schön vorgeführt.“
Das Allerschönste an der Schulreform ist, dass wir ihre Errungenschaften später auf allen gesellschaftlichen Ebenen wiederfinden. „Non scholae, sed vitae discimus“, pflegten schon die alten Griechen zu sagen. Oder waren es die alten Römer? Oder die alten Mesopotamier? Oder gar die alten Azteken? Egal! Wer will das überhaupt wissen? In Zeiten der gnadenlosen Intertextualität? Evaluieren wir also: Wer montags blau macht, erlaubt sich eine regenerative Betrachtung der Arbeitswelt aus meditativer Distanz. Wer seinen Nachbarn über den Haufen schießt, beweist eine fachlich herausragende Beziehung zur Ballistik.
Und die Liste der Erfolgsmeldungen hört gar nicht mehr auf. Ein Bankangestellter, der ein paar Millionen Euro in den Sand setzt, pflegt einen innovationsfreudigen Umgang mit Transaktionen. Ein Arbeitsplatzsuchender, der einen Bewerbungsbrief voller Sprachschnitzer schreibt, ist ein Genie der dadaistischen Literatur. Das sollten sich alle künftigen Arbeitgeber mal hinter die Ohren schreiben. Wer einen qualifizierten Dadaisten im Betrieb hat, muss die Konkurrenz nimmer fürchten. Ein Schüler, der auf dem Pausenhof seine Mitschülerin an der Gurgel packt und würgt, verrät eine deutliche Präferenz für medizinische Berufe. Das Abtasten, das Suchen nach Schwellungen und Prellungen, also die diagnostische Feinarbeit am Körper der potenziellen Patientin, brechen sich auf spektakuläre Weise Bahn bei diesem frühreifen Arzt.
Nur unbelehrbare Nostalgiker sehnen heute noch den pädagogischen Befreiungsschlag herbei. Jenen kostbaren Augenblick, wo sie ohne Rückgriff auf obskures Schlagwortgebrabbel mit klarem Kopf sagen: „Mein Lieber, da hast du aber ganz schön Scheiße gebaut!“ Dieser Augenblick wird nie mehr eintreten. Denn schon die Wortwahl ist ein krasser Irrtum. Heute muss es nämlich heißen: „Mein Lieber, wir gratulieren dir für deine perfekte Exkrementskulptur!“ Alles weitere erledigt die Schulreform. Nicht ausgeschlossen, dass diese tolle Skulptur beim nächsten Schulfest ausgestellt wird. Und der Künstler, der zu solcher Hochleistung fähig ist, kommt selbstverständlich in die Zeitung. Mit Foto und Curriculum.