Als ein Bibliotheksmitarbeiter den Promi-Gast aus der Literaturszene am Dienstag mit seiner Kamera festhalten wollte, klingelte dessen Telefon. Er nahm ab, bevor er den Raum verließ und ein „Alô“ schallte durch die Publikumsreihen. Damit war das Thema des Lese- und Diskussionsabends mit Zeit-Kolumnist Harald Martenstein und Literaturkritiker Jérôme Jaminet gesetzt: Menschliche Kuriositäten und Pannen, das mehr und weniger charmante Scheitern zwischen Ideal und Realität, das Gutgemeinte, das sich in das Schlechtgemachte wandelt und umgekehrt.
Merkwürdig ist beispielsweise, wieviel Geduld und Geld Erwachsene in Kinder investieren. Martenstein las im Cercle-Cité-Auditorium vor: „Warum haben Leute Kinder? Ich kann es nicht begreifen. In den ersten Monaten schlafen die Kinder meistens, außer nachts. Im Wachzustand schreien sie und verrichten emsig ihre Notdurft. Dann kommt die Phase, in der sie Bücher aus den Regalen ziehen, Seiten aus den Büchern herausreißen und sich im Supermarkt schreiend auf den Boden werfen.“ Eine irgendwie besondere, vielleicht fatale, Liebe hält diese Beziehung am Laufen. Denn eine Partnerin, die beim Autofahren zwanzig Mal die gleiche CD hören will, „da würde man sagen, Schatzilein, tut mir leid, zwanzig Mal Julio Iglesias, das passt so nicht in meine Lebensplanung“.
Jérôme Jaminet, in blauem Sakko und exzentrisch-orangener Brille, wollte sichergehen, dass alle Martensteins Humor verstehen und fragte anschließend: „Wie ist diese Kolumne zu verstehen? Kinder sind zwar anstrengend, aber so ganz ohne ist auch blöd?“ Es sei eine tolle Sache, das sei klar, erwidert der Neu-Kreuzberger. Aber man setzte sich unter Druck, wenn man alles immer toll finden müsse. „Ich muss es toll finden, dass ich die Windel wechseln muss“, parodierte er eine gesellschaftliche Erwartungshaltung. „Nein, das findet man nicht toll.“ Man solle da realistisch bleiben. Jaminet seinerseits bekommt jedes Jahr etwa 100 neue Kinder. Die gingen aber zum Glück auch wieder. „Also, man nennt es Klassenwechsel“, erläuterte er. Eigene Kinder habe er nicht, seine Frau auch nicht. Zwei Männer diskutierten am Dienstagabend vor gefülltem Saal also über Vaterschaft, – ob sich Martenstein wirklich „nach der Rückkehr des guten alten Pimmelpatriarchats“ sehnt, wie die woz schrieb, ist zu bezweifeln.
Ab wann ist man denn eigentlich ein alter weißer Mann, fragte Jérôme Jaminet sein literarisches Vorbild, wie er seinen Gesprächspartner zu Beginn des Abends nannte. Er ist vergangenen Dienstag 43 geworden und vermutete, „so langsam bin ich fällig“. Im Alter werde man zwar zum Zipperlein-Experten, aber das mit dem Schreiben gehe nicht mehr so schnell wie früher, versuchte ihn Harald Martenstein auf das Älterwerden einzustimmen. „Ich hab bei einer Lokalzeitung in Wiesbaden angefangen. Um über die Runden zu kommen, musste man am Tag fünf bis sechs Artikel schreiben. Das kommt mir heute irre vor, dass ich das geschafft habe, in so einem Großraumbüro zu sitzen und fünf Artikel am Tag zu schreiben, ohne wahnsinnig zu werden.“
Martenstein packte dann noch eine weitere Kolumne aus, in der er sich an Altersgebrechen abarbeitete und las: „Inzwischen habe ich gelernt, dass es auch sehr gut möglich ist, ohne Gehör an einer Gesprächsrunde teilzunehmen. Hauptsache, man macht einen zugewandten Eindruck. Hin und wieder nicke ich oder lächle wissend. Die Leute mögen das. Seit ich nichts mehr höre, gelte ich zum ersten Mal als ein Mensch, der gut zuhören kann.“ Graues Haar schüttelte sich vor Lachen, die überwiegend Ü-50 Köpfe fühlten sich gespiegelt.