Peer-to-Peer-Versicherungen: Kontrolle ist gut, aber Vertrauen ist billiger

Einer für alle, alle für einen

d'Lëtzebuerger Land du 08.12.2017

Fahrradraub, Feuersnot oder Blutkrebs: Versicherungsmakler malen gerne Unheil an die Wand. Eigentlich ist es nur fair, wenn jetzt den Policen-Händlern selbst Angst gemacht wird. Im vergangenen Jahr haben InsurTech-Firmen mehr als zwei Milliarden US-Dollar von Investoren eingeworben. Das ist zwar noch gut zehn Mal weniger Geld als für FinTechs, die Bankfilialen ausrotten. Die Kampfansage reicht aber, um die behäbige Welt der Assekuranz in Aufregung zu versetzen. Ohne Absicherung gegen Risiken wird es auch in Zukunft nicht gehen – aber braucht es dazu Drückerkolonnen und Versicherungskonzerne? Kommerzielle Herausforderer und idealistische Vereine entdecken erneut ein altbewährtes Modell: Gegenseitigkeit und Solidarität.

„Gebt Euer Geld lieber für die schönen Dinge im Leben aus anstatt für überteuerte Makler, schicke Hochhäuser und fette Provisionen“, wirbt zum Beispiel Crowdheroes. Diese Auktionsplattform will Versicherungswünsche bündeln, durch Marktmacht die Preise purzeln lassen und letztlich Erstversicherer ausschalten, um selbst mit Rückversicherern zu verhandeln. „Das Potential zur Kostenreduzierung ist sehr groß“, rechnet Johannes Matthias vor, der Gründer des Berliner Startups: Gerade einmal 15 Prozent der Versicherungsprämien würden derzeit für Schäden ausgegeben, der Rest gehe drauf für Vertrieb und Verwaltung, Kontrolle und Gewinne. Die Branche sei reif für eine „digitale Revolution“.

Versuche, den Versicherungsmarkt à la Uber oder Airbnb aufzurollen, werden gebremst durch hohe Eintrittsbarrieren: eingeführte Marken, viele staatliche Vorschriften, langjährige Verträge, hoher Kapitalbedarf für Rücklagen. Die Platzhirsche profitieren vorerst auch davon, dass sie Geld anlegen konnten, als es dafür noch Zinsen gab. Lange wird das aber Newcomer mit hippen Namen wie Schutzklick, Fairr, AppSichern oder Versicherix nicht aufhalten. Weltweit scharren schon mehr als 1 000 InsurTech-Firmen mit den Hufen. Die Beute ist zu verlockend: Allein in Deutschland kassieren Versicherungen über 193 Milliarden Euro pro Jahr an Prämien; sie verwalten ein Drittel des gesamten Vermögens.

Fast schon sadistisch haben in den letzten Monaten Unternehmensberater Studien veröffentlicht zu absehbaren Auswirkungen der Digitalisierung auf das Versicherungswesen: ob Capgemini („sehr disruptiv“), McKinsey („inspirierende Bedrohung“), EY („disruptives Potential“), KPMG („Innovations-Imperativ“), PWC („keine Modeerscheinung“) oder Oliver Wyman („radikalster Wandel“). Deloitte hat gar einen monatlichen „InsurTech-Podcast“ eingerichtet.

Der Ton schwankt zwischen Hype und Hysterie. Etablierte Versicherungen haben demnach drei Optionen: Entweder sich selbst kannibalisieren und mit Blockchain oder anderen Technologien ihre Kosten drastisch drücken. Oder beliebig austauschbare Dienstleister werden für Software-Konzerne und Betreiber von Internet-Plattformen, die den eigentlichen Reibach machen. Oder pleitegehen.

Jetzt rächt sich, dass Policen gern über halbseidene Agenten vertrieben werden und es kaum direkten Kontakt mit Konsumenten gibt: Versicherungsgesellschaften haben oft keine Ahnung, wer ihre Kunden sind. Digital-Firmen wie Amazon oder Facebook wissen dagegen über Gesundheitszustand und Leben ihrer Nutzer bestens Bescheid: Sie können Risiken viel genauer berechnen. Datenschutz ist ohnehin nur eine europäische Marotte: In Südafrika zum Beispiel verknüpft Discovery Health Genom-Analyse mit Versicherung. Wohl nicht zum Spaß hat sich Google bereits für mehrere US-Staaten Versicherungslizenzen besorgt.

Um Wertschöpfungsketten zu sprengen, setzen viele InsurTechs aber nicht nur auf Big-Data, Drohnen, Algorithmen und künstliche Intelligenz, sondern auch auf eine einfache, altehrwürdige Idee: solidarische Absicherung. Sich in kleinen, überschaubaren Gruppen unter die Arme zu greifen, erspart Verwaltung und vermeidet Betrug. Schon im Mittelalter gab es Schutzgilden auf Gegenseitigkeit. In Deutschland haben Polizisten, Gefängniswärter und Pfarrer bis heute Vereine, die bei Notfällen Beistand leisten.

Mittlerweile nennt sich das „Peer-to-Peer-Versicherung“. Beispiele dafür sind InsPeer aus Paris und Friendsurance aus Berlin: Eine Gruppe schmeißt Geld zusammen, um bei einer traditionellen Versicherung etwa Kfz- oder Haftpflicht-Policen mit hoher Selbstbeteiligung zu kaufen. Das dabei gesparte Geld wird genutzt, um kleine Schäden unbürokratisch innerhalb der Gruppe zu regulieren – und ansonsten rückerstattet. Die holländische Stiftung CommonEasy will bei Berufsunfähigkeit sogar ganz allein mit dem eigenen Beitragspool auskommen. Das planen in London auch Guevara für Kfz-Schäden und Cyclesyndicate bei Fahrraddiebstahl. Das von drei Russen gegründete Startup Teambrella baut eine Plattform auf, wo beliebige Gruppen sich zu selbstgesetzten Regeln mit eigenen Bitcoin-Konten absichern können: Versichert Euch, wie Ihr wollt!

Die bereits in fünf US-Bundesstaaten aktive Peer-to-Peer-, Blockchain- und auch sonst coole Sachversicherung Lemonade vergibt einen Teil der rückzuerstattenden Gelder an gemeinnützige Organisationen. Wer da falsche Rechnungen einreicht, betrügt nicht nur die Versicherung und die Freunde aus seiner Gruppe, sondern auch Greenpeace und das Rote Kreuz. Nicht uninteressant für eine Branche, in der Schummelei und Kontrolle wesentliche Kostenpunkte sind. Zu den größten Investoren von Lemonade gehört übrigens die Allianz SE. Durchaus denkbar, dass diese Beteiligung einmal mehr wert sein wird als das Stammhaus. Ähnliche Überlegungen bewegten wohl auch die Koblenzer Debeka, Europas größte private Krankenversicherung, bei Ottonova einzusteigen, Deutschlands erster „rein digitalen Krankenversicherung“.

InsurTechs haben bei Community-basierten Versicherungen die größten Chancen, aber nur ein geringes kommerzielles Potential, mäkeln Marktstudien von Oliver Wyman. Die meisten Menschen fragen sich eher, wieso ihre Absicherung überhaupt Dividenden für irgendwelche Investoren abwerfen soll. In Deutschland wachsen trotz staatlicher Schikanen und heftiger Gegenwehr bereits vier ehrenamtlich verwaltete, nicht berufsständische Solidargemeinschaften. Sie wollen besser, günstiger und persönlicher als Versicherungen sein.

Artabana wurde vor 30 Jahren in der Schweiz von einem Arzt gegründet. Die anthroposophisch angehauchte Bewegung schwappte 1999 über den Rhein. In Deutschland gibt es jetzt rund 220 Artabana-Gruppen mit 2 500 Mitliedern. Samarita wurde 1997 von alternativen Finanzdienstleistern in Bremen gegründet und hat nun rund 350 Mitglieder. Solidarkunst mit 45 Teilnehmern entstand 2004 in Freiburg, im Jahr 2013 folgte in Überlingen die Gründung von Solidago mit heute rund 285 Mitstreitern – beide zunächst mit dem Ziel, alternative Heilverfahren zu finanzieren.

Diese Unterstützungsvereine für den Krankheitsfall sind dezentral in lokalen Gruppen mit jeweils 5 bis 30 Mitgliedern organisiert. Diese legen die Beiträge selbst fest (bei Solidago fix zehn Prozent des versteuerten Einkommens). Für Großfälle wie Krebsbehandlung sichern sie sich mit überregionalen Fonds ab; Samarita hat auch eine herkömmliche Rückversicherung. Über Auszahlungen entscheiden die Mitglieder bei ihren regelmäßigen Treffen. Arzt- und Therapiewahl sind weitgehend frei. Um Staatsgrenzen scheren sie sich auch nicht: Vielleicht ist ja das Krankenhaus in Frankreich netter? Die Mitglieder haben keinen Rechtsanspruch auf bestimmte Leistungen, stattdessen versprechen sie sich gegenseitig tatkräftige Hilfe. Das kostet Zeit und Engagement und funktioniert nur mit solidarisch eingestellten, eigenverantwortlichen Menschen.

Obwohl die kleinen Solidargemeinschaften keine aktive Werbung machen und neue Mitglieder nur nach monatelanger Probezeit aufnehmen, sind sie den gesetzlichen und privaten Krankenkassen ein Dorn im Auge: Die Alternativen ziehen besonders Angehörige von Heilberufen an – gesundheitsbewusst, auch Gutverdiener, also „gute Risiken“. Außerdem könnte ihr Beispiel Schule machen.

Da es in Deutschland eine Krankenversicherungspflicht gibt, können etablierte Versicherungen ihren Kunden den Wechsel zu einer Solidargemeinschaft verweigern. Eine Münchnerin, vertreten von dem Rechtsanwalt und Ex-Innenminister Otto Schily, prozessierte seit 2011 gegen die Barmer Ersatzkasse, die sie nicht zu Samarita ziehen lässt. Im Juli 2017 wies nun das Bundessozialgericht diese Musterklage aus formalen Gründen ab. Rechtlich operieren Solidargemeinschaften oft weiterhin in einer Grauzone.

Die staatliche Skepsis ist verständlich: Die Versicherungswirtschaft zahlt viel Steuern und bietet gute Versorgungsleistungen für Politiker. Allein in Deutschland beschäftigen derzeit rund 550 Versicherungsunternehmen noch insgesamt mehr als eine halbe Million Angestellte. Die tröstet vielleicht, dass die amerikanische Peer-to-Peer-Startup Dynamis durch Auswertung von Daten des Internetportals LinkedIn die Arbeitslosenversicherung unschlagbar günstig machen will.

Martin Ebner
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