In der gestrigen Ausgabe des Quotidien warnte der Kinderarzt Roland Seligmann an prominenter Stelle davor, schon Kleinkindern Tablet-Computer zu geben. Viele Eltern dächten, ein solches Gerät sei eine gute Beschäftigung fürs Kind und fördere dessen Entwicklung. Doch in der Kinderklinik des CHL, wo Seligmann arbeitet, würde „bei den Kleinsten“ eine „wachsende verbale, aber auch physische Aggressivität festgestellt“ und „psychische und körperliche Abhängigkeit“ von Tablets. Man beginne dieses Problem erst zu erfassen, und vermutlich werde es unterschätzt.
Dass in Luxemburger Medien vor der Nutzung der Tech-Gadgets durch Kinder gewarnt wird, kommt nicht oft vor. Eher wird das Hohelied der ICT gesungen, wird dem Bildungsminister Raum gegeben, der für mehr „digitalen“ Unterricht sorgen will, oder dem Wirtschaftsminister für dessen Klage über den „Fachkräftemangel“ im Land der Datenzentren und Hochgeschwindigkeitsnetze. Programmierer würden gesucht, IT-Sicherheitsexperten, Netzwerkspezialisten und so fort. Kaum früh genug könnten Kinder zu programmieren lernen. Das habe auch Steve Jobs mal gesagt. Vom Bildungsminister war unlängst zu vernehmen, wieso nicht schon mit fünf. Auf jeden Fall sollen im Unterricht der Grundschulen Tablets stärker Einzug halten. Schulneubauten erhalten dazu von Anfang an eine Wifi-Antenne pro Klassenraum. Sorgen um Elektrosmog müsse man sich nicht machen, erklärte Minister Claude Meisch (DP) diese Woche auf eine parlamentarische Anfrage hin: In Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium kämen „intelligente“ Netze zum Einsatz, wodurch die elektromagnetischen Emissionen „auf das strikte Minimum“ reduziert blieben.
Sorgen um Elektrosmog mögen unbegründet sein. Nicht aber Sorgen um den Einsatz von Tablets in der Grundschule überhaupt und um „digitale Lehrinhalte“. Die Wissenschaft ist eindeutig: Der Lehreffekt digitaler Schulbücher ist umso geringer, je interaktiver sie sind, je mehr Hyperlinks und Videos sie enthalten. Bücher und Hefte sind für den Wissenserwerb besser geeignet als „Googeln“ im Internet. Wissen durch aufmerksames „Deep Reading“ aufzunehmen, klappt mit gedruckten Büchern am besten. Der Lerneffekt durch das Schreiben von Hand ist viel höher als bei Tastatureingabe. Eine Langzeitstudie in China, wo 5 000 Symbole in der Schule immer öfter nicht mehr von Hand, sondern per Maus geschrieben werden, ergab, dass von den die Maus nutzenden Schülern in der vierten Klasse 40 Prozent nicht mehr schreiben können; die weiterhin gelegentlich per Hand schreiben, sind eindeutig besser.
Schon wahr, dass in Luxemburg ICT-Personal händeringend gesucht wird. Aber dabei hilft es nichts, schon in der Grundschule mit Tablets zu hantieren. Kleine Kinder lernen mit den Fingern zählen und durch Be-Greifen von Gegenständen, aber nicht durch das Wischen über einen Touchscreen. Steve Jobs wusste vermutlich, wieso er seinen eigenen Kindern den Ipad verbot. Im kalifornischen Silicon Valley steht die Waldorf School of the Peninsula, in der Tablets und Smartphones nicht erlaubt sind, Computer im Unterricht keine Rolle spielen und nicht einmal die Computernutzung zuhause gern gesehen ist. Drei Viertel der Schüler sind Kinder von Executives von Apple, Google oder Hewlett-Packard, die sich das bis zu 24 000 US-Dollar Schulgeld im Jahr kosten lassen.
Aber es ist nicht neu, dass es Kindern Bessergestellter eher möglich wird, dem Grundsatz zu folgen, der bei den Amerikanern heißt, „do what you really want to do and the money will follow“. Hier ist das nicht anders, und für das gemeine Volk gedacht sind die Ansprachen des LSAP-Wirtschaftsministers, seinen Berufswunsch gefälligst an den Erfordernissen von Volkswirtschaft und Beschäftigungsmarkt auszurichten. Der ICT-Standort und die dritte Industrielle Revolution brauchen Code-Knechte, zu kritischem Denken Begabte dagegen viel weniger.