Strukturelle und andere Formen von Diskriminierung gehören für viele Trans-Menschen zum Alltag. Das politische Interesse, daran etwas zu ändern, hat in den letzten Jahren etwas nachgelassen

„Son expérience en vie réelle“

Safe Spaces
Photo: Lynn Kelders (2023)
d'Lëtzebuerger Land du 24.05.2024

In ihrer alten Schule durfte die heute 21 Jahre alte Helena beim Sportunterricht nicht mit den Mädchen in die Umkleide, weil die Direktion sonst offenbar die Eltern der anderen Mädchen darüber hätte informieren müssen. Weil die Jungs das Transmädchen nicht in ihrer Umkleide wollten und sie sich nicht als Junge fühlte, entschied sie sich für einen separaten Raum – eine dritte Option –, in dem sie alleine duschen und sich umziehen konnte. Mit 16 wechselte sie an eine neue Schule. Weil sie inzwischen ihr „Passing“ hinter sich hatte (sie wurde von ihrer Umwelt als dem Geschlecht zugehörig wahrgenommen, mit dem sie sich selbst identifiziert), wollte sie selbstverständlich in die Frauen-Umkleide. Doch zwei Sportlehrer sprachen sie vor der Tür an und wollten vor allen anderen Schüler/innen von ihr wissen, wieso sie in die Mädchenumkleide gehe, wo es doch „eindeutig sei“, dass sie kein Mädchen sei. Sie müsse zu den Jungs, verlangten die Lehrer. Niemand habe verstanden, wieso die beiden älteren Männer sie vor allen anderen „fertig gemacht haben“, schildert Helena, weder sie selbst noch die anderen Schüler/innen.

Schon mit drei Jahren habe ihr Kind sie gefragt: „Mama, firwat sinn ech kee Jong?“, berichtet die Mutter eines Transjungen. Weil es dem Kind emotional immer schlechter ging, erlaubten seine Eltern ihm, als er zwölf war, mit der Einnahme von Hormonblockern zu beginnen. Sie fuhren mit ihm zu einer Endokrinologin an eine Uniklinik in Deutschland, um sich professionelle Unterstützung zu holen, die sie „in Luxemburg nicht bekamen“. Im Lycée durfte das Kind sich anschließend als Junge einschreiben, die Verwaltung ließ seinen neuen Vornamen in die Dokumente und auch ins Klassenbuch eintragen. Die Lehrer/innen wussten über seine Trans-Vergangenheit nicht Bescheid: „Was gut war“, sagt die Mutter, die Schule habe sich vorbildlich verhalten. Doch ein Jahr nach dem Einnahmebeginn der Hormonblocker musste der 13-Jährige zum contrôle médical. Der Kontrollarzt war skeptisch und fragte die Eltern: „Wissen Sie, was Ihr Kind da für Medikamente nimmt?“ Die ebenfalls anwesende Psychologin sagte dem Jungen Dinge wie: „Du bist und bleibst dein Leben lang ein Mädchen, denn du hast weibliche Gene“ oder: „Du musst dich vor deinen Freunden outen, sonst lebst du dein ganzes Leben lang eine Lüge“. Nach diesen entwürdigenden Kommentaren sei ihr Kind am Boden zerstört gewesen, sagt die Mutter. Heute studiert ihr Junge in Berlin und möchte sich einem geschlechtsangleichenden Eingriff unterziehen. Damit die CNS die Kosten dafür übernimmt, muss er erst ein Jahr lang zum Psychiater, der einen Bericht „documentant le suivi de la personne protégée au cours de son expérience en vie réelle“ erstellt, wie es in den Statuten der Gesundheitskasse heißt. „Mein Junge ist nicht krank, wieso soll er zum Psychiater?“, fragt die Mutter.

Beide Betroffenen-Aussagen wurden bei einem politischen Rundtischgespräch getätigt, das die Vereinigung Intersex & Transgender Luxembourg am Donnerstag vergangener Woche im Rainbow Center von Rosa Lëtzebuerg veranstaltete. Sie veranschaulichen nur ansatzweise, dass die Transition oft ein langer Leidensweg mit vielen Rückschlägen ist. Wünsche nach Selbstbestimmung werden von Personen in Machtpositionen häufig nicht respektiert, sei es im schulischen, erzieherischen oder medizinischen Kontext. Unter dem Vorwand, die Person zu schützen, handeln sie bevormundend und manchmal herablassend. Ein Sozialpädagoge berichtete am Donnerstag, wenn junge Menschen Fragen zu Geschlechtervielfalt hätten, bekämen sie oft keine Auskunft, weil das Schulpersonal nicht viel darüber wisse und überfordert sei. Insgesamt fehle es an Weiterbildungsmöglichkeiten, beziehungsweise seien Lehrer/innen und Erzieher/innen nicht über ihre Optionen informiert. Es gibt Ausnahmen, doch die Unwissenheit über Bedürfnisse und Wünsche von Transpersonen ist auch im medizinischen Bereich nach wie vor weit verbreitet (bei unseren Recherchen hat sich herausgestellt, dass es nur sehr wenige Allgemeinärzt/innen und Psychiater/innen gibt, die sich mit dem Thema auskennen, was sie selbst mit den geringen Fallzahlen begründen).

In dem vom europäischen LGBTIQ+ Dachverband Ilga jährlich veröffentlichten Rainbow-Index stagniert Luxemburg seit zwei Jahren auf dem siebten Rang. 2020 war das Großherzogtum vom 18. auf den dritten Platz gestiegen, danach aber wieder zurückgefallen. Der Grund dafür: Bis 2018 hatten DP, LSAP und Grüne Anti-Diskriminierungsgesetze und die sogenannte Homo-Ehe eingeführt, seit dem noch unter Justizminister Felix Braz (Grüne) in Kraft getretenen Gesetz zur Vereinfachung der Namens- und Personenstands​änderung war die Dreierkoalition jedoch untätig geworden. Das im Regierungsabkommen von 2018 versprochene Verbot von Zwangsoperationen bei Intersex-Kindern wurde genauso wenig umgesetzt wie die dritte Geschlechtsoption im Personenstandsregister und die Untersagung von Konversionstherapien. Nicht zuletzt hatten die vier großen Parteien DP, LSAP, Grüne und CSV sich im Rahmen der Verfassungsreform darauf geeinigt, die Gleichheit zwischen den Geschlechtern im Grundgesetz auf die binären Kategorien Frau und Mann zu begrenzen.

Im von der Uni Luxemburg erstellten Evalua-​tionsbericht des „nationalen Aktionsplans LGBTI“, den die DP-Ministerin für Gleichstellung und Diversität Yuriko Backes vor einem Monat veröffentlichte, werden die legislativen Versäumnisse mit dem Zeitverlust infolge der Corona-Pandemie begründet. Vieles deutet aber darauf hin, dass es innerhalb der Dreierkoalition in manchen Fragen keinen politischen Konsens gab. Das Rundtischgespräch vergangene Woche wäre für DP, LSAP und Grüne eine gute Gelegenheit gewesen, mit mutmaßlichen Missverständnissen aufzuräumen und Bedenken oder Unsicherheiten anzusprechen. Jedoch schickten LSAP und Grüne nicht die ehemalige Gesundheitsministerin Paulette Lenert und die frühere Justizministerin Sam Tanson, die in der letzten Legislaturperiode für die Umsetzung des Verbots von Zwangsoperationen bei Intersex-Kindern und die Einführung einer dritten Geschlechtsoption zuständig gewesen wären, sondern die noch eher unerfahrenen Abgeordneten Claire Delcourt und Joëlle Welfring, die sich mit dem Thema Geschlechtervielfalt bisher kaum auseinandergesetzt hatten, wie aus ihren Interventionen hervorging. Beide zeigten sich zwar durchaus emphatisch mit den Betroffenen, betonten jedoch, sie seien gekommen, um zuzuhören und zu lernen. Von der DP, die mit der früheren Familienministerin Corinne Cahen und der aktuellen Diversitäts- und Gleichstellungsministerin Yuriko Backes seit 2013 ununterbrochen in der Regierung für die Anliegen der LGBTIQ+ Community zuständig ist, kam keiner zu der Veranstaltung im Rainbow Center – die Abgeordnete Barbara Agostino, die angekündigt war, hatte sich nicht einmal abgemeldet. Schon alleine daran lässt sich erkennen, welchen Stellenwert die großen Parteien Trans-Themen beimessen.

Eine Ausnahme stellte die CSV dar, deren Abgeordnete Nathalie Morgenthaler als frühere Direktorin des Zentrums für Gleichbehandlung (CET) sich seit Jahren mit Diskriminierung – auch von Intersex- und Trans-Personen – beschäftigt, und dementsprechend konstruktive Beiträge zur Diskussion am Donnerstag leisten konnte. Sie und der Piraten-Abgeordnete Sven Clement waren die einzigen, die sich ernsthaft auf das Rundtischgespräch vorbereitet hatten. Die Linke hatte mit Anastasia Iampolskaia (siehe S.6) keine Abgeordnete, sondern eine Europakandidatin geschickt, die sich selbst als abinär definiert und folglich mit dem Thema vertraut ist, auch wenn sie sich „eine andere, weniger fachkundige Art von Diskussion“ erwartet hatte, wie sie gestand. Die ADR war nicht eingeladen, um ihr keine Bühne für transfeindliche Äußerungen zu bieten, mit ihrer Abgeordneten Alexandra Schoos will ITGL sich zu einem späteren Zeitpunkt gesondert treffen.

Die Abwesenheit früherer und aktueller Ministerinnen und insbesondere der für Gleichstellungsfragen und Bildung verantwortlichen Regierungspartei DP war umso bedauerlicher, weil am Donnerstag mehrere Betroffene von konkreten Diskriminierungen berichteten, die sie im Alltag erfahren, und damit ihre auf Außenstehende vielleicht manchmal abstrakt wirkenden Probleme konkret veranschaulichten. Vor zwei Jahren hatte die damalige DP-Familienministerin Corinne Cahen in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen-Abgeordneten Djuna Bernard dargelegt, das für LGBTIQ+ Fragen zuständige interministerielle Komitee (das Yuriko Backes nun erweitern will) sei 2020 zu dem Schluss gekommen, dass es für die langjährige Forderung der Interessenverbände nach einem Verbot von Konversionstherapien keinen Bedarf gebe, weil die Rechte von Trans- und anderen LGBTIQ+ Personen durch Antidiskriminierungs- und Anti-Hatespeech-Gesetze bereits ausreichend geschützt seien. Viele Betroffene sahen das am Donnerstag anders.

ITGL-Präsident Erik Schneider sprach etwa von „Konversionserziehungsmaßnahmen“, beispielsweise an Schulen, und berichtete von einer Person mit langen Haaren, die sich weiblich fühlte, und wegen des Umkleideproblems nach dem Sportunterricht immer nur als Letzte duschen und ihre Haare föhnen durfte. Gleichzeitig wurde ihr verboten, mit feuchten Haaren zum Essen zu erscheinen. Deswegen habe sie regelmäßig das Essen verpasst. Immer wieder sei versucht worden, „auf diese Art und Weise den Menschen dazu zu bringen, seine Haare zu schneiden“, legte Erik Schneider dar, um zu veranschaulichen, dass Konversion nicht nur in medizinischen Therapien, sondern auch im erzieherischen Bereich stattfinde: „Wir brauchen ein Gesetz, das das unterbindet.“

Als weitere Konversionsmaßnahme gilt das sogenannte „Deadnaming“ – wenn Verwaltungen sich weigern, in Dokumenten den Vornamen zu benutzen, den eine (sich in der Transition befindende) Person sich wünscht, bevor sie den Schritt unternimmt, ihren Namen und ihren Personenstand durch einen Antrag beim Justizministerium ändern zu lassen. Manchmal erfolgt die offizielle Namens- und Personenstandsänderung erst am Ende der Transition , doch Betroffene wünschen sich oft schon in einem früheren Stadium, dass sie unter dem selbstgewählten Namen leben dürfen. Ihnen diesen Wunsch zu erfüllen, auf ihre Bedürfnisse einzugehen, wäre ein wichtiger Schritt, zu dem die Verwaltungen (etwa an Bildungseinrichtungen) nicht gesetzlich verpflichtet sind, der jedoch von Menschlichkeit, Inklusion und pädagogischer Kompetenz zeugen würde.

Wie schon seit Jahren wurde am Donnerstag erneut Kritik an den CNS-Statuten geäußert, die Trans-Personen als an einer „dysphorie de genre“ Leidende pathologisiere und als Voraussetzung für die Kostenübernahme einer geschlechtsangleichenden Operation eine einjährige psychiatrische Begleitung „au cours de son expérience en vie réelle“ fordert. Was die CNS genau unter „expérience en vie réelle“ versteht, ist nicht bekannt. Wenngleich auch bei Betroffenen Übereinkunft darüber herrscht, dass Beratung zur Verfügung stehen soll, wenn sie gebraucht wird – insbesondere für Minderjährige –, wird die Verpflichtung zur psychiatrischen Begleitung in vielen Fällen als entwürdigende und wenig zielführende „Konversionsmaßnahme“ empfunden. Was nicht zuletzt daran liegt, dass die meisten Trans-Menschen sich schon intensiv mit (anderen Aspekten) ihrer Transition auseinandergesetzt haben, bevor sie sich unter Umständen für eine OP entscheiden (nur ein Teil der Trans- und abinären Menschen wünscht sich tatsächlich eine OP). Deshalb fordert ITGL eine entpathologisierte Beratung, die auf die Bedürfnisse der Betroffenen eingeht und etwa auch von Psychotherapeuten angeboten werden könnte. In Deutschland wurden 2022 rund 2 600 geschlechtsangleichende Eingriffe registriert, die meisten Betroffenen waren zwischen 20 und 40 Jahre alt, zwei Drittel waren Trans-Frauen.

Neben struktureller und institutioneller Diskriminierung nehmen aber laut Untersuchungen auf europäischer Ebene und Einschätzung von Aktivist/innen auch die persönlichen Angriffe und die Gewalt gegen LGBTIQ+ Menschen zu – sowohl in den sozialen Netzwerken als auch in der alltäglichen Realität. Trans-, Inter- und nicht-binäre Menschen seien davon besonders betroffen, sagte Andy Maar von Rosa Lëtzebuerg vergangene Woche dem Tageblatt. Statistiken dazu gibt es in Luxemburg bislang keine, Diskriminierungen werden nur in den seltensten Fällen zur Anzeige gebracht. Von den 43 Beschwerden, die 2022 beim CET wegen des Motivs Geschlecht eingingen, kamen neun von Transpersonen. Um ihnen (und anderen Angehörigen der LGBTIQ+ Community) die Möglichkeit zu bieten, ihre Diskriminierungserfahrungen vertraulich und anonym mitzuteilen, hat das Centre Cigale vergangene Woche offiziell das Luxembourg Institute for LGBTIQ+ Inclusion (Lili) ins Leben gerufen, das quantitative und qualitative Erhebungen zu Homo- und Transfeindlichkeit durchführt.

Hassreden gegen Transpersonen (und die LGBTIQ+ Community insgesamt) werden insbesondere von Konservativen und der neuen Rechten verbreitet, die unlängst darin Unterstützung von Papst Franziskus erhielten (d’Land, 12.4.2024). Ungeachtet des in den Sozial- und Kulturwissenschaften weit verbreiteten performativen Ansatzes von Geschlecht als gesellschaftlich konstruierter Rolle, wird die populärwissenschaftliche Behauptung, aus biologischer Sicht gebe es nur zwei Geschlechter, inzwischen auch von „genderkritischen“ Feministinnen, Linken und Liberalen (wieder) benutzt, um Trans-Menschen ihr Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen. Dass es unzählige Variationen von Geschlecht gibt, ist aber auch in der Biologie inzwischen weitgehend anerkannt.

Die CSV-DP-Regierung hat in ihrem Koalitionsprogramm keine spezifischen Maßnahmen für Trans-Menschen vorgesehen. Wie die Vorgängerregierung sieht sie allerdings die Einführung eines „neutralen“ Geschlechtseintrags im Personalausweis für abinäre oder non-binäre Menschen (die sich nicht oder nur teilweise mit einem der beiden binären Geschlechter identifizieren) und das strafrechtliche Verbot von Konversionstherapien vor. Abinäre Menschen sollen auch in die offiziellen Antidiskriminierungsstrategien aufgenommen werden, die Regierung will sie künftig besser schützen. Etwas weniger eindeutig positionieren CSV und DP sich hinsichtlich des Verbots von Zwangsoperationen bei Intersex-Personen: „Il (le Gouvernement) œuvrera en sorte à ce que les modalités applicables à la réassignation sexuelle ainsi qu’à l’assignation de sexe chez les personnes intersexuées soient évaluées et adaptées aux besoins.“

Am Donnerstag im Rainbow Center wurde die Frage aufgeworfen, ob Geschlechtszuweisungen bei der Geburt überhaupt sinnvoll sind. Eine Alternative wäre, Kinder ihr Geschlecht ab einem bestimmten Alter selbst wählen zu lassen, wenn sie das Bedürfnis haben, sich einer Kategorie zuzuordnen. Zum jetzigen Zeitpunkt würde eine politische Debatte darüber vielleicht noch auf Unverständnis stoßen. Die dritte Option wäre schon ein gesellschaftspolitischer Fortschritt und auch ein Paradigmenwechsel gegenüber dem weitgehend binären Ansatz der Vorgängerregierung. Im Rahmen der Reform von 2018 hatte Felix Braz veranlasst, dass Menschen, bevor sie ihren Personenstand ändern können, in der Öffentlichkeit dem gewünschten Geschlecht entsprechend auftreten müssen („de se présenter publiquement comme appartenant au sexe revendiqué“). Was der Minister sich konkret darunter vorstellte, wird in dem Text nicht präzise ausgeführt. Ihn nach der Einführung eines „neutralen“ Geschlechtseintrags auf abinäre Personen zu übertragen, dürfte für die neue Regierung eine weitere Herausforderung werden.

Luc Laboulle
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