Lumpenproletariat, Pack, sozial Verachtete, Unterschicht, Asoziale, Hartz-IV. Begrifflichkeiten für Menschen, die abgekoppelt sind vom Erwerbsleben und aus einer Arbeitsgesellschaft, wie sie in Europa vorherrscht, ausgeschlossen werden, gibt es viele. In Deutschland lässt sich die Anzahl dieser Menschen ziemlich genau beziffern. Sie geht aus den detaillierten amtlichen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervor. Doch die Soziologen haben in den vergangenen Jahren eine weitere gesellschaftliche Entwicklung aufgezeigt: das verfestigte Prekariat. Es bezeichnet Menschen, die ein Leben in einer gesellschaftlichen „Grauzone“ führen. Sie gehören einerseits nicht zu den völlig Abgehängten, aber andererseits eben auch nicht zu dem Teil der Bevölkerung, der einen sicheren Arbeitsplatz besitzt und somit ein ökonomisch weitestgehend sorgenfreies Leben führen.
Zu der Entstehung des Prekariats hat die Entwicklung der Arbeit in Europa beigetragen, die den Unterschied zwischen Reich und Arm vergrößert und verfestigt. Der Trend zu mehr Leih- und Werksarbeit, Befristungen und Solo-Selbstständigkeiten, aber auch das Arbeitsnomadentum zwischen wirtschaftlich stabilen Staaten der EU und Krisenländern verfestigt diese Grauzone des Prekariats. In Deutschland ermittelte nun eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin und der Universität Nürnberg-Erlangen, wie viele Menschen dauerhaft zum verfestigten Prekariat gezählt werden müssen. Analysiert wurden Zahlen der Jahre 1993 bis 2012. Diese wurden in zwei Perioden von jeweils zehn Jahren unterteilt. Finanziert wurde die Studie von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Das Ergebnis: Rund vier Millionen Menschen leben und arbeiten unter prekären Umständen. Das sind zwölf Prozent aller Erwerbstätigen. Das verfestigte Prekariat setzt sich aus drei Personengruppen zusammen. Mehr als die Hälfte waren Frauen, die zu Beginn des Betrachtungszeitraums zwischen 25 Jahre bis 54 Jahre alt waren. Die meisten von ihnen waren Mütter. Die zweitgrößte Gruppe waren gleichaltrige Männer. Die dritte Gruppe schließlich junge Männer, die zwischen 15 Jahre und 25 Jahre alt waren.
Der wichtigste Verdienst der Studie ist es, dass sie eine Definitionsgrundlage für den Begriff des „Verfestigten Prekariats“ liefert. Dazu ermittelten die Forscher Indikatoren für prekäre Arbeitsbedingungen einerseits und prekäre Lebenssituationen andererseits. Prekäre Arbeitsbedingungen wurden an den Parametern Einkommen, mangelnde soziale Absicherung und Arbeitsplatzunsicherheit gemessen. Eine prekäre Arbeitssituation liegt vor, wenn zwei der drei Parameter erfüllt wurden. Die Kriterien beim Einkommen waren Niedriglohn und Existenzminimum. Der Niedriglohn trifft zu, wenn der Bruttostundenverdienst weniger als Zweidrittel des Medianverdiensts, das ist der mittlere Verdienst der Arbeitnehmer in Deutschland, beträgt. Das Existenzminimum ist nicht erreicht, wenn das Bruttojahreseinkommen unterhalb des Grundfreibetrags bei der Einkommensteuer liegt. Das sind derzeit 9 000 Euro. Die Arbeitsplatzunsicherheit wird über einfache oder unqualifizierte Arbeit, ein hohes Erwerbslosigkeitsrisiko sowie erhöhte berufsspezifische Gesundheitsrisiken definiert. Prekäres Leben wird an der Wohnsituation, der finanziellen Situation, besonderen Belastungen wie etwa einer Behinderung oder der fehlenden rechtlichen Absicherung festgemacht, wenn etwa keine Sozialversicherung vorliegt. Die Betrachtung über zwei Sphären schreibt das verfestigte Prekariat fest. Dazu zählen nicht Menschen, die zwar prekär beschäftigt sind, aber dennoch ein sorgenfreies Leben führen können, weil etwa der Ehepartner für die Absicherung sorgt. Andererseits zählten die Forscher den Alleinverdiener mit Frau und Kindern in einer Großstadt auch nicht dazu.
Das sind die Zahlen für Deutschland. Wie es um prekäre Lebenssituationen in den Ländern aussieht, die von der Finanzkrise besonders hart getroffen wurden, gibt es nur Mutmaßungen. Weitere Zusammenhänge in diesem Kontext zeigte vergangene Woche ein Essay unter dem Titel „Patrizier für das Prekariat“ in der britischen Wochenzeitung The Economist aus. Die Autoren forderten darin eine Rückbesinnung auf den Liberalismus, der sich für Freihandel, Marktwirtschaft, Gemeinwohl und Sozialstaat positioniere: „Wirtschaft und Wohlfahrt Hand in Hand“. Ein Modell, das nach 1989 sich durchzusetzen schien. Jedoch, so kritisieren die Verfasser, habe der Sieg des Liberalismus die Liberalen selbstgefällig werden lassen „in der Blase ihrer selbst rekrutierenden Milieus, unaufmerksam gegenüber Kartellbildung, abgelöst von Teilen der Bevölkerung, die vom rasanten Wachstum zu wenig profitieren. Zudem habe man sich zu sehr auf Partikularinteressen der Identitätspolitik – ausgerichtet an Interessen von ethnischen, religiösen oder sonstigen sozialen Gruppen – fixiert, die zu apolitischer Konkurrenz zahlreicher Gruppen und Subgruppen führe. In diesem politischen Vakuum „schwillt an der Ruf nach dem starken Mann, der es am besten weiß“.