Krisengutachten des WSR

Kapitalismusschelte

d'Lëtzebuerger Land vom 09.04.2009

„Dreißig Seiten Kapitalismusschelte“ enthalte das Jahresgutachten des Wirtschafts- und Sozialrats, kündigte bei dessen Vorstellung am Mittwoch WSR-Direktor Serge Allegrezza an. Tatsächlich: Im Kapitel „L’abandon progressif de l’État-providence et ses conséquences“ etwa lässt der WSR sechs Jahrzehnte politischer Ökonomie Revue passieren. 

Beginnend mit dem fordistisch orientierten Industriekapitalismus der Nachkriegszeit und dessen Begleitung durch eingreifende, nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik, die Vollbeschäftigung zum Ziel hatte. Weiter über die Anfänge der ökonomischen Globalisierung in den 1970-ern mit ersten Überproduktionskrisen, der Abschaffung des Bretton-Woods-Systems, der „Stagflation“ Ende der Siebziger und der Renaissance angebotsorientierter Theorien von Deregulierung und schlankem Staat, die ab den 1980-ern, unter Thatcher und Reagan zunächst, auch staatlich institutionalisiert wurden. Bis hin zum Finanzkapitalismus nach der Jahrtausendwende mit seinem „shadow banking system“, wie der WSR es nennt, und dessen zweistelligen Renditeversprechen. „L’évolution d’un capitalisme industriel vers un capitalisme financier“, heißt es resümierend, „peut être qualifiée comme étant la conséquence directe de politiques qui jouissaient d’un large consensus à leur époque au sein de l’élite politique et économique et qui se sont en quelque sorte imposées à la société“.

Doch bereits seit dem Ausbruch der weltweiten Finanzkrise nach dem Absturz von Lehman Brothers ist solche Systemkritik nicht mehr auf Linksparteien und Globalisierungsgegner beschränkt, und selbst Spitzenbankiers hoffen öffentlich, die Wirtschaftsordnung nach der Krise möge irgendwie sozial gerechter und „nachhaltiger“ sein. 

Der WSR hofft das ebenfalls. Aber es ist wohl auch ein Ausdruck von Verlegenheit, dass ein Drittel seines Berichts der Rückschau gewidmet ist. Mehr als ein weiteres Drittel enthält Reformbetrachtungen zum Gesundheitswesen (siehe den nebenstehenden Text), die mit der Krise nichts zu tun haben. Doch der paritätisch von den Sozialpartnern besetzte WSR, der seine Gutachten traditionell im Konsens verabschiedet, kann nichts empfehlen, was über die Tripartite hinaus geht. Und die hat sich zum Thema Krise Anfang März auf nach den Wahlen vertagt.

Was dort auf dem Spiel stehen wird, falls in der Zwischenzeit nicht unvermutet die Konjunktur wieder anzieht, geht aus dem WSR-Bericht allerdings ziemlich deutlich hervor: Im Kapitel zur konjunkturellen Lage wird als einzige Branche mit – wahrscheinlich, da nur geschätzten –  zuletzt positiven Ergebnissen der Einzelhandel genannt. Um minus 4,4 Prozent dagegen dürften in diesem Jahr die Exporte sinken. Sie aber machen neun Zehntel der Luxemburger Wirtschaftsleistung aus. Da ist es ein eher schwacher Trost, dass der Endverbrauch der Haushalte wahrscheinlich um 0,7 Prozent wachsen wird, der öffentliche Verbrauch um 2,9 Prozent, und dass die Bruttokapitalbildung mit minus 1,3 Prozent nur leicht abnehmen soll. Doch gerade „[c]es trois évolutions reflètent dans une large mesure l’action des autorités“, schreibt der WSR, und mit einem geschätzten BIP-Wachstum um minus 1,8 Prozent im laufenden Jahr seien die Aussichten für Luxemburg kaum besser als für den Rest der Eurozone, wo mit minus 1,9 Prozent zu rechnen sei.

Bleibt hinzuzufügen, dass der WSR  sich auf die vergleichweise optimistischen Prognosen des Statec stützt. Die Europäische Zentralbank sieht die Wirtschaft der Eurozone um 2,2 bis 3,2 Prozent schrumpfen, und der Internationale Währungsfonds sagte Luxemburg vergangene Woche minus 3,8 Prozent in diesem Jahr und eine Stagnation bis Mitte 2011 voraus. Der WSR dagegen glaubt mit dem Statec, dass die Wirtschaft 2010 schon wieder um 2,1 Prozent wachsen werde. 

Doch je länger die Exportbranchen unter der Krise zu leiden haben, desto eher dürften sie ihre Kosten weiter reduzieren. Die Industrie zum Beispiel, wo die Produktion saisonbereinigt im vierten Quartal 2008 im Vergleich zum dritten um 16 Prozent sank. Oder das Transportgewerbe mit seinen 10 000 Beschäftigten, wo der Warenverkehr um ein Viertel abgenommen hat. Nicht unerwartet endet an diesem Punkt der Konsens im WSR schon heute: Während die Patronatsseite zum „intensiveren Sozialdialog“ auffordert, um Kostensenkungsmaßnahmen „positiv zu begleiten“, meinen die Salariatsvertreter, „que la crise ne doit pas servir de prétexte  à des réductions de salaire, à des suppressions d’emplois, voire à des délocalisations“.

Angesichts dieser engen Perspektive kann der Wirtschafts- und Sozialrat nicht viel mehr an Anti-Krisen-Aussagen machen, als das Konjunkturpaket der Regierung zu begrüßen; darauf hinzuweisen, wie wichtig gerade jetzt Aus- und Weiterbildung, eine „solide Diversifizierungspolitik“ und ein verstärktes Standortmarketing sind, und den beschleunigten Ausbau der Glasfasernetze zur Digitalübertragung in Super-Bandbreite zu empfehlen. Dass die Landesplanung viel zu schwer vom Fleck kommt, hat der WSR schon 2007 beklagt und wiederholt es jetzt, denn kurz vor Ende der Legislatur liegen die Sektorpläne nur als avant-projets vor, der über den Wohnungsbau fehlt gänzlich. 

Nur zum Thema „Bürokratie-Abbau“ äußert der WSR sich ausführlicher: Für die Verwaltungen sollten generell Fristen zur Kommunikation mit Antragstellern eingeführt werden; im Gegenzug sei dafür zu sorgen, dass sie über genügend Personal verfügen. Kein geringfügiger Vorschlag, denn selbst viele Regierungsverwaltungen sind unterbesetzt. Zur besseren interministeriellen Zusammenarbeit empfiehlt der WSR, informelle „Plattformen“ einzurichten, wie es sie bisher nur für Umweltschutz- und Urbanismusfragen gibt. Dort sollten Probleme gelöst werden, die sich um öffentliche Projekte stellen. Verschiedene öffentliche Anhörungsprozeduren würde der WSR überprüfen lassen; dass es gegen eine Baugenehmigung 14 Rekursmöglichkeiten gibt, findet WSR-Vizepräsident Romain Schmit „nicht mehr tragbar“. Für Stadtplanungsfragen schlägt der WSR die Schaffung kommunaler guichets uniques für Bau- und Handwerksbetriebe vor.

Dass der Wirtschafts- und Sozialrat an den Anfang seines Jahresberichts eine lange Exegese zur Finanzkrise gestellt hat und zu einem „shadow banking system“ jene Branche aus Investmentbanken, Hedge-Fonds und Private-Equity-Fonds summiert, die in Luxemburg kaum vertreten ist, gibt ihm aber auch Gelegenheit, den hiesigen Finanzplatz von der Schattenwelt abzugrenzen. Luxemburg dürfte „la vague réglementaire qui suivra la crise“ meistern, meint der WSR. Dass sich daraus sogar ein Vorteil gegenüber völlig deregulierten Offshore-Zentren ziehen lassen könnte, hält er aber lediglich für „pas exclu“ und hofft, mithilfe der Universität und der Luxembourg School of Finance würden sich neue Kompetenznischen erschließen lassen.

Dass trotz all der Unwägbarkeiten WSR-Präsident Allegrezza davon ausgeht, dass nach einem Wiederaufschwung Luxemburg erneut zu einem „anständigen“ Wachstum gelangt, das „den alten Zahlen nahe kommt“, kann aus dem Mund des Statec-Direktors überraschen. Denn schon im Frühsommer vergangenen Jahres hielt die OECD in ihrem Makroökonomischen Bericht für Luxemburg diese Aussicht für nicht mehr wahrscheinlich und sagte zum Beispiel, ganz ohne großen Krach im internationalen Finanzkapitalismus, wachsenden Druck auf das Bankgeheimnis voraus. Wie sollte ein solches Wachstum möglich sein bei verschärfterer Regulierung? Und shadow banking und „Kapitalismusschelte“ hin oder her: „Si aujourd’hui, un certain nombres de critiques vis-à-vis de l’instabilité du système financier s’impose, il ne faut pas oublier que le Luxembourg a largement bénéficié d’un développement extraordinaire“, schreibt der WSR. 

Aber an dieser Stelle gelangt der wirtschafts- und sozialpolitische Think tank der Sozialpartner an eine weitere Konsensgrenze: Zur Kenntnis genommen hat er nicht nur, dass die Regierung Anfang des Jahres gegenüber der EU-Kommission ihre Vorausschau zur Entwicklung der Staatsfinanzen revidiert hat. Der WSR zweifelt auch bislang stets positiv eingeschätzte Einnahmequellen des Staates, wie die Mehrwertsteuer, an. Und weil „les projections les plus récentes laissent augurer un considérable ralentissement de la progression de l’emploi en 2009 et 2010“, hält der WSR selbst die von der Regierung im Januar korrigierten Prognosen zu den Beitragseinnahmen der Sozialversicherung für zu optimistisch.

Behält er Recht, wäre es ein Grund mehr, dass sich bei der Bildung der neuen Regierung die Frage nach der Finanzierung des Sozialsystems stellt – und später auch in der Tripartite. Da käme es nach außen fast einer prinzipiellen Einigung der Sozialpartner zum Griff nach den So-zialtranfers gleich, falls  im WSR-Jahresgutachten die Aussicht auf längerfristig kleinere Wachstumsraten auch nur erwähnt würde.

Nichts liegt ferner. „Kein Sozialabbau aus Anlass der Krise!“, erklärte WSR-Vizepräsident und OGB-L-Generalsekretär André Roeltgen. Der Staat habe „noch Manövriermasse“; man könne die öffentliche Schuld, die 2010 wegen der Rettung von Fortis und Dexia auf 17 BIP-Prozent ansteigen wird, notfalls erhöhen. „Kann sein, dass der Konsens hier bricht“, erwiderte Romain Schmit vom Patronat. Und Präsident Allegrezza meinte, im WSR sei der Sozialdialog „ein permanenter“. 

Peter Feist
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