Was bringen Karenztage?

Moral zweiter Ordnung

d'Lëtzebuerger Land vom 10.10.2014

Die Unternehmerverbände bringen die Idee seit Jahren immer wieder vor: Ein „Karenztag“ werde die Leute vom „Blaumachen“ abhalten. In dem Fall erhielte ein Beschäftigter am ersten Tag einer Krankschreibung kein Gehalt.

Im Ausland gibt es das längst. In Frankreich zum Beispiel gelten im Privatsektor sogar drei Karenztage. Erst ab dem vierten Krankheitstag erhält ein Beschäftigter 50 Prozent des Gehalts von der öffentlichen Krankenkasse. Ab dem achten und bis zum 38. Tag zahlt der Betrieb weitere 40 Prozent zu, ab dem 38. Krankheitstag nur noch 16 Prozent – für den Rest springen dann private Krankengeldversicherungen ein, falls der Beschäftigte selber eine abgeschlossen hat oder sein Betrieb einer für die gesamte Belegschaft.

Mit Blick auf dieses Krankengeldsystem hat das Centre d’économie an der Pariser Sorbonne vor einem Jahr herauszufinden versucht, wie sich die drei Karenztage auswirken. Denn es gibt auch französische Unternehmen, die über Privatversicherungen schon für die ersten drei Krankheitstage das Gehalt weiterzahlen, zum Teil sogar zu hundert Prozent. Aufgrund einer Frankreich-weiten Erhebung unter 1 348 Firmen kamen die Forscher zu dem Schluss, dass in Firmen, die auch die ersten drei Tage versichern lassen, der Krankenstand so wenig höher ist als in den anderen, dass das statistisch nicht ins Gewicht fällt. Viel deutlicher sind die Differenzen, wenn es um die Dauer der Krankschreibungen geht: Sie lag bei den Beschäftigten in Betrieben ohne Zusatzversicherung für die ersten drei Krankheitstage um 18 Prozent höher. Dass sei so viel, resümiert der Bericht der Sorbonne, dass die ersten Krankheitstage versichern zu lassen, es einem Betrieb erlaubt, die Kosten zu begrenzen, die durch einen présen-téisme entstehen: Etwa, wenn erkältete Mitarbeiter auch mit Fieber zur Arbeit gehen, sich nicht auskurieren und am Ende stärker erkranken und vorher noch Kollegen anstecken.

„Pour le législateur, le délai de carence ne semble pas constituer une voie de régulation efficace des arrêts maladie“, heißt es zum Schluss. Denn vermutlich würden Beschäftigte, die dem délai de carence unterliegen, nicht nur kleine Erkrankungen eher schlechter auskurieren. Dass sich die Zahl der Krankschreibungen in Betrieben mit und ohne Karenztagen so gut wie gar nicht unterscheidet, in Letzteren aber die Krankheitsdauer wesentlich niedriger ausfällt, könnte vor allem damit zu tun haben, dass wer Karenztagen ausgesetzt ist, länger krankgeschrieben zu werden versucht, um damit eine Art Kompensation für den Gehaltsausfall der ersten drei Tage zu erlangen. Die Sorbonne-Forscher nennen das einen „effet d’aléa moral de second ordre“. pf

Pollak, C., La couverture du délai de carence et les arrêts de maladie en France: déterminants et impact sur l’absentéisme. DREES, Centre d’économie de la Sorbonne. http://ces.univ-paris1.fr/membre/seminaire/S2I/pdf/Pollak_13.pdf
Peter Feist
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