„Die luxemburgische Botschaft in Moskau spricht von einer Katastrophe, vieles bleibt unklar, wie wer überhaupt eingezogen wird und für wie lange. Die Botschafts-Mitarbeiter berichten von einer verängstigten Bevölkerung, die sich nicht mehr vor die Tür traue“, teilte Jean Asselborn am Montagmorgen während einer Pressekonferenz mit. Die Polizei patrouilliere durch die Moskauer U-Bahn, um Soldaten zu rekrutieren; sie gehe wenig selektiv vor, auch 60-Jährige würden zum Kampf aufgefordert. „Andere protestieren und lehnen sich gegen Wladimir Putin auf. Junge Russen versuchen zu flüchten: nach Südfinnland, nach Georgien, in die Mongolei oder in die Türkei“, führt der LSAP Außenminister aus. Ein Flugticket nach Istanbul koste derweil bis zu 18 000 Euro.
Gesprächspartner aus der russischen Gemeinschaft Luxemburgs zu finden, die die Teil-Mobilmachung kommentieren wollen, war zunächst nicht einfach: Anfragen wurden abgelehnt, man sei emotional aufgerüttelt und wolle sich nicht äußern. Aussagen, bei denen skrupulös darauf geachtet wurde, sich nicht gegen den Krieg zu positionieren – der Kreml könnte ja mitlesen. Anders, Sergey Terentyev, Gründungsmitglied des Vereins RU-Help – Russians against the War, der derzeit jedes Wochenende Anti-Kriegs-Proteste organisiert. „Solange Putin an der Macht ist, werde ich nicht nach Russland zurückreisen und kann mich an Demonstrationen beteiligen“, so der diplomierte Manager, der seit 2006 in Luxemburg wohnt. Viele der in Luxemburg Lebenden mit russischem Migrationshintergrund seien allerdings seit der Mobilmachung bedrückt. Er erwähnt einen Freund, dessen Eltern in Moskau eine Einberufung für ihn entgegen nehmen mussten. Ein weiterer Freund aus Luxemburg sei nach Kasachstan unterwegs, um dort seinen zwanzigjährigen Sohn abzuholen. Der junge Russe habe vergangenes Wochenende die Grenze von Ostrussland aus zu Fuß erreicht. „Da wir Freunde und Familienmitglieder haben, die eingezogen wurden, betrifft die Mobilisierung uns alle“, sagt ein weiterer Gesprächspartner, der anonym bleiben möchte.
Illa Ostretsov, ein ehemaliger Moskauer der seit sechs Jahren in Luxemburg lebt, meint seinerseits, Einwohner Luxemburgs mit russischem Pass seien sicher: „Wir vertrauen auf den hiesigen Staat und die europäischen Werte; wir haben unsere Aufenthaltsgenehmigung und es ist nicht möglich, dass der russische Staat uns von Europa aus einzieht.“ Illa Ostretsov ist über eine internationale Firma migriert, die Automatisierungsprozesse in der Industrie umsetzt. Seit Kriegsbeginn ist er bei RU-Help engagiert und zeigt sich etwas enttäuscht von Auslandsrussen, die nicht gegen die Moskauer Führungselite demonstrieren: „In Europa herrscht Meinungsfreiheit, man sollte von dieser Freiheit profitieren.“ Befürchten er und Sergey Terentyev nicht durch ihre Protestaktionen, Verwandte in Russland in Gefahr zu bringen? Beide meinen, man sollte nicht unterschätzen, wie dysfunktional der russische Staat sei.
Jean Asselborn bewertet die Mobilmachung als mögliche Zäsur: Innenpolitisch könne Moskau den Krieg nicht mehr als „Operation“ darstellen, weil Männer drakonisch aufgefordert werden, an die Front zu ziehen. Der Mythos-Putin sei am bröckeln. Auch weil der außenpolitische Druck wachse; Serbien, langjähriger Verbündeter, erkennt mit Verweis auf das Völkerrecht, die Referendumsresultate in den Gebieten Luhansk und Donezk sowie den Regionen Cherson und Saporischschja nicht an. Ungeniert üben ebenfalls China und Indien, die enge geschäftliche Beziehungen mit Russland unterhalten, Kritik. Der nationalistisch und unternehmerisch ausgerichtete Premierminister Narendra Modi weiß, dass nach einer monetären Logik keine Sieger aus Kriegen hervorgehen und behauptete Mitte September: „Heute ist keine Ära des Kriegs“. Der LSAP-Außenminister erläuterte am Montag, er müsse zugeben, als er in New York während der UN-Vollversammlung von der Mobilmachung hörte, sei ihm noch gar nicht bewusst gewesen, welche Konsequenzen diese haben werde, – und ließ somit durchblicken, dass er Putins Entscheidung erst im Nachhinein als historischen Moment deutete.
Die russischsprachigen Auswanderer bilden in Luxemburg eine heterogene Gruppe. Dreiviertel sind Frauen und mindestens die Hälfte der Frauen ist mit einem Nicht-Russen verheiratet. Zudem fanden über das 20. Jahrhundert verteilt unterschiedliche Migrationsbewegungen aus Russland nach Luxemburg statt und setzten bereits vor dem ersten Weltkrieg an; Russen kamen damals zunächst als politische Flüchtlinge, Handwerker, Kaufleute und Industriearbeiter aus den westlichen Teilen des Zarenreichs, das sich bis nach Warschau streckte. In Kriegszeiten wurden sie als sowjetische Kriegsgefangene sowie Zwangsarbeiter in Esch, Differdingen und Düdelingen gehalten, dabei waren ethnisch betrachtet die Hälfte von ihnen Ukrainer. Während der Zeit des Kalten Krieges kam die Emigration ins Großherzogtum fast zum Erliegen, erst 1991, also nach dem Zerfall der Sowjetunion, zogen vermehrt Einwanderer nach Luxemburg, die allerdings häufig von einer Rückkehr ausgingen. Zugleich schwoll die Gruppe der Arbeitsmigranten von internationalen Firmen und Kapitalbesitzern seitdem an, wie man in der Publikation 100 Jahre Russen in Luxemburg von Inna Ganschow nachlesen kann.
Mit der Gründung der Universität in Esch-Belval studierten darüber hinaus vermehrt russische Personen in Luxemburg. Für den Zeitraum 2005-2018 spricht die Universität Luxemburg von 286 Studierenden und Doktoranden, die überwiegend in den MINT-Fächern eingeschrieben waren. Die meisten Migranten stammen aus dem westlichen Teil Russlands, wo ohnehin die meisten Russen leben. Laut Statec besitzen 2 000 Einwohner Luxemburgs einen russischen Pass. Aus Zahlen des Außenministeriums geht hervor, dass die Visa-Vergabe seit Kriegsbeginn deutlich zurückging; während von Februar bis August 2019 2235 Visa an russische Bürger ausgestellt wurden, waren es im gleichen Zeitraum dieses Jahr nur 686.
Bisher überwiegte in Russland die passive Zustimmung zum Krieg, man zog sich ins Private zurück, machte Urlaub, ging zur Arbeit, traf sich mit Freunden. Die Teil-Mobilmachung rüttelt die Mehrheit jedoch aus ihrer apolitischen Haltung heraus. Illa Ostretov erwähnt, viele seiner Bekannten aus Moskau überlegten sich, das Land zu verlassen. Wer tatsächlich für oder gegen die Invasion sei, bleibe schwer einzuschätzen, meint Inna Ganschow. „Kaum einer traut sich in Russland, öffentlich seine Meinung zum Krieg zu äußern.“ Aber auch in Luxemburg reagiert die russische Gemeinschaft verhalten. Die Forscherin vernimmt in Luxemburg jedoch kaum Unterstützung, viele seien kremlkritisch, die russische Propaganda perle größtenteils ab. Einige vor allem ältere und monolinguale-russischsprachige Personen wiederum würden die Kriegsnarrative aus Putins Kreisen gutheißen, teilten diese jedoch nicht publik, weil sie Ressentiments der hiesigen Bevölkerung befürchteten. „In dem Sinne sind Zahlen schwer zu erheben“, schlußfolgert Inna Ganschow.
Wladimir Putin hat es, wie auch andere Autokraten, geschafft, das Bild Russlands mit seiner Person zu verschmelzen und das erschwere es, sich gegen ihn aufzulehnen: Denn wer Putin attackiere, der bäume sich gegen Russland auf. Das durchkreuze eine Haltung, die eine vehemente Regime-Kritik zulässt und gleichzeitig Kulturgüter Russlands und seine Einwohner verteidigt, so die Analyse von Ganschow. Ein anonymer Gesprächspartner bricht diese Analyse auf die Realität der Teil-Mobilmachung herunter: „Viele im Wehrdienstalter sind Patrioten und denken, dass sie einberufen wurden, um Russland vor dem ausländischen Feind zu schützen.“ Die Führungselite lese dies als Zustimmung in ihre Entscheidung. Dennoch würden viele Männer Putin nicht unbedingt unterstützen.
Die allgegenwärtig abverlangte Pro-Putin-Haltung ermüdet aber scheinbar vor allem die gutgebildeten jüngere Bevölkerung; Sergey Terentyev erzählt in einwandfreiem Luxemburgisch, einige seiner Freunde hätten bereits im März Russland verlassen, „well se mam Putin-Regime net averstane sinn, an sech säit Joeren näischt zum Bessere verännert huet“. Aber nicht jeder, der das Land verlässt, ist „Militäroperation-Gegner“ – zumindest offiziell, wie ein weiterer Russe aus Luxemburg angibt zu beobachten. Zudem sind es Personen, die es sich leisten können, sich freizukaufen. „Die Gesellschaft ist auf unterschiedlichen Ebenen gespalten, um es vorsichtig auszudrücken“, führt er aus. Zu der sozialen Ungleichheit kommen interethnische Spannungen hinzu. Wie die BBC-Journalistin Olga Ivshina dokumetierte, stammten die Soldaten bisher überwiegend aus von Moskau vernachlässigten Regionen wie Burjatien, wo wenige ethnische Russen leben. Vermutlich werden durch die Mobilmachung innerrussische West-Ost-Gräben an der Front verstärkt, die den Korpsgeist des russischen Militärs weiter herausfordern.
Was die Aufnahme von Kriegsdienstverweigerern betrifft, befürchtet Jean Asselborn, dass die EU zu keiner gemeinsamen Stimme finden werde. Polen, Tschechien und die baltischen Länder wollen russische Fahnenflüchtige nicht aufnehmen; Putin-Gegner sollten Opposition in Russland leisten, – so ihre offizielle Begründung. Der Außenminister aber schließe sich der Haltung von Ratspräsident Charles Michel an, „et soll een d‘Dier net komplett zoumaachen, bei deenen déi uklappen, soll eng Prozedur agelaut ginn“. Man solle zudem bedenken, dass sie in Russland 15 Jahre Gefängns riskieren. Putin will seinerseits demnächst eine Rede halten, wie russische Exilmedien berichten. Ob vor Parlamentsabgeordneten oder im Fernsehen stehe noch aus sowie auch was er ankündigen wird: Die Grenzenschließung? Die Verhängung des innerstaatlichen Ausnahmezustands? Den Krieg gegen die Nato?