Während die Ukraine um ihr Überleben kämpft, kämpft sie auch um ihren Platz in der europäischen Familie. Das europäische Erbe der Ukraine reicht Jahrhunderte zurück: Erst durch ihre Anbindung an den Westen wurde die Ukraine zum Zentrum der industriellen Revolution des Zarenreichs. Angetrieben wurde dieser Wandel von einer Gruppe belgischer Ingenieure, Unternehmer und Arbeiter, darunter auch einige Luxemburger.
Der sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow antwortete 1959 bei einem Besuch in den USA, auf die Frage über seine Herkunft: „Bis ich fünfzehn war habe ich als Viehhirte gearbeitet. Dann habe ich in einer Fabrik gearbeitet, die den Deutschen gehörte, dann in einem Bergwerk der Franzosen und dann in chemischen Fabriken, die den Belgiern gehörten“. Mit diesen chemischen Fabriken meinte er die des Belgiers Evence Coppée. Der Hüttenbaron Evence Coppée aus Mons war seit 1887 im Donbass tätig, wo er Hunderte von Hochöfen für die Koksverhüttung bauen ließ. Als der belgische Außenminister Paul Henri Spaak 1961, wenige Tage nach dem Berliner Mauerbau, zu Besuch in Moskau war, erkundigte sich der damalige Sowjetchef Nikita Chruschtschow (1894-1971), der als Ukrainer im russischen Grenzgebiet Kursk geboren worden war, nach dem Befinden des Baron Coppée, seinem früheren Arbeitgeber.1
Dass im eher agrarisch strukturierten Russland 1917 eine Arbeiterrevolution ausbrach, dazu haben nicht so sehr Lenin und Stalin die Vorarbeit geleistet, sondern die zahlreichen vor allem belgischen Unternehmen, die zuvor ein Millionenheer von russischen Arbeitern in ihren Fabriken eingestellt hatten. Kohle hatte ein Engländer bereits 1723 im Donezgebiet entdeckt, 1870 hatte der Waliser John James Hughes die drei notwendigen Elemente der Schwerindustrie – Eisenerz, Kohle und Schienentransport – zusammengefasst, und neben einer einsamen Hirtensiedlung das Dorf Yuzovka, die heutige Millionenstadt Donezk gegründet. Kohle und Metallurgie wurden zu Motoren der Entwicklung.2
Um die Fabriken zu planen und zu bauen, waren seit 1880 Heere von belgischen Arbeitern und Ingenieuren nach Süd-Russland gezogen, insgesamt 20 000 sollen es um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert gewesen sein. Belgische Firmen waren in fast allen Bereichen tätig, angefangen jedoch hatten die belgischen Investitionen beim großen Boom des Eisenbahnbaus in diesem riesigen Land. Ab 1860 wurde nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, die ein Heer von Landarbeitern freistellte, das zaristische Russland von einer neuen Industrialisierungswelle erfasst, die sich vor allem auf die Entwicklung von Bergwerken und die Schwerindustrie konzentrierte.
In der Hochphase des Industrieaufbaus gab es eine komplette belgische Infrastruktur vor allem im heute heftig umkämpften Donezgebiet, mit belgischen Handwerkern, Ärzten, Advokaten und sogar katholischen Kirchen. Mit über 166 Unternehmen war das kleine Belgien der größte ausländische Investor im riesigen Zarenreich: 41 Prozent des ausländischen Kapitals im damaligen Russland stammte aus Belgien. Seit dem 1890er Jahren herrschte an der Brüsseler Börse das „russische Fieber“.
Die Industrialisierung des Donbass begann in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Die Europäer, darunter auch Luxemburger, gaben den Anstoß zur industriellen Entwicklung in Städten des Donbass wie Donezk, Luhansk, Druschkiwka, Enakievo, Selidowo, Mariupol, Konstantinowka, Horliwka, Debalzewe, Torez, Kramatorsk und Lisitschansk. Das Zarenreich brauchte neue Technologien und eine moderne Schwerindustrie, um seinen militärisch-industriellen Komplex neu auszurüsten. Und in den 1890er Jahren war Belgien das erste Partnerland, das eine komplette Kohle- und Stahlindustrie und ein einheitliches Eisenbahnsystem in der heutigen Ukraine aufbaute. Belgische Investoren investierten 550 Millionen Goldfranken in diese steppen- und wüstenähnliche Region. In heutigem Geld waren das mehr als 5,5 Milliarden Euro. Diese „belgische Provinz“ hatte ihr Zentrum in Luhansk. Im Jahr 1900 gab es im Donbass etwa 300 Unternehmen im Besitz von ausländischen Investoren. Im Jahr 1913 entfielen 70 Prozent der Kohleförderung im Donbass und 86 Prozent der Erzförderung auf ausländisches Kapital. Belgien war zu jener Zeit die drittgrößte Industriemacht der Welt. Zwei Drittel der Investitionen im Donezbecken gehörten belgischem Kapital. Es gab sogar einen direkten Zug von Brüssel in den Donbass.
Die Zaren schätzten die belgische Expertise. Das Königreich war seit 1839 neutral und galt daher als zuverlässigerer Partner als der Industriegigant Großbritannien. Dazu kam, dass Großbritannien und Frankreich zwischen 1853-56 gegen Russland im Krimkrieg gekämpft hatten und Konkurrenten des Zarenreiches in Asien waren. Belgien war eines der ersten europäischen Länder, das eine auf Kohle, Metallurgie und Eisenbahntechnologie basierende Industriewirtschaft einführte, aber zwischen 1873-1882 erlebte Belgien selbst eine große Industriekrise. Für enttäuschte Investoren, aber auch für Ingenieure und Unternehmer kam der Aufbruch nach Osten gerade zur rechten Zeit. Als erstes reagierte die Firma Cockerill. Im Jahr 1886 gründete sie die „Société Dniéprovienne du Midi de la Russie“. Die Ingenieure F. Enakiev, B. Yalovetsky und belgische Geschäftsleute gründeten 1895 die Russisch-Belgische Metallurgische Gesellschaft (Kurz „Russo-Belge“ genannt), die in der Nähe der Siedlung Fedorovka ein neues Eisenwerk errichtete. Um das Werk herum wurden Kohlegruben eröffnet, und in der Nähe entstanden Siedlungen, die 1898 zu einer einzigen zusammengelegt wurden, die nach dem Gründer der Russo-Belge „Enakievo“ genannt wurde. Der Schriftsteller Alexander Kuprin, der 1896 in der Fabrik arbeitete, beschrieb das Leben der Arbeiter in dieser Fabrik in seinem Roman Moloch, es war einer der ersten Arbeiterromane, der später in der Sowjetunion viele Auflagen erleben sollte. Bis zum Ersten Weltkrieg entstanden in Enakievo eine Reihe weiterer Fabriken, darunter eine Kokerei, eine Ziegelfabrik, eine Brauerei und eine Butterfabrik. Das Werk Enakievo wurde zu einem der größten Eisenwerke im Süden des Zarenreiches. Im Jahr 1913 produzierte es 350 000 Tonnen Eisen und 316 000 Tonnen Stahl. Enakievo liegt zwanizg Kilometer von Donezk entfernt. Direkt neben Enakievo, (heute Jenakijewe) entstand mit den „Charbonnages de Gorlovka“ (heute Horliwka) ein weiterer großer Industriekomplex, in dem viele Luxemburger arbeiteten.
Die Dniéprovienne war ein Joint Venture mit einem russisch-polnischen Stahlwerk, was Cockerill einen 25 Prozent Markt für Schienen im Zarenreich sicherte. Das Unternehmen war äußerst erfolgreich: Bei einer Kapitalisierung von 13 Millionen belgischen Goldfrancs erhielten die Aktionäre in den ersten fünf Jahren 5,5 Millionen an Dividenden, um 1900 waren es bereits 13 Millionen. Um seine Position zu festigen, gründete Cockerill das Bergbauunternehmen Almaznaja (in der Nähe von Kriwoj Rog) und die Nicolaieff-Werft bei Odessa. Die guten Nachrichten erschienen auf den Titelseiten der belgischen Zeitungen, und der Kurs der Dniéprovienne Aktien in Brüssel stieg von 500 auf 6 700 belgische Goldfrancs.
1892 führte eine weitere Finanzkrise in Belgien zu einem regelrechten Exodus in das Donezbecken. Die Société générale, die Stahlwerke von Angleur, Espérance-Longdoz, Ougrée und Providence eilten nach Russland, um die Cockerill-Formel zu kopieren, und kauften Bergbaukonzessionen. Luhansk, Donezk, Charkiw und Jekaterinoslaw (heute Dnepro) – diese Namen riefen bei den Anlegern eine Stimmung hervor, der dem Goldfieber in Kalifornien ähnelte, man könnte sie auch mit dem Boom von Technologieaktien in den 1990er Jahren vergleichen. Anders als bei Dniéprovienne konnten sich die Unternehmen in den 1890er Jahren nicht auf staatlich garantierte Aufträge verlassen, während der Wettbewerb um die Vorkommen und die Ungeduld der Aktionäre die Preise für die Konzessionen in die Höhe trieben ... aber die Aktienkurse stiegen zunächst noch.
Im Jahr 1900 kontrollierten ausländische Investoren 45 Prozent der russischen Wirtschaft. In den Sektoren Bergbau und Metallurgie lag der Anteil bei 72 Prozent. Das Donezbecken war das unbestrittene Zentrum der wirtschaftlichen Aktivitäten und beherbergte fast die Hälfte der ausländischen Unternehmen, vor allem aus Belgien: 17 Kohlebergwerke und Eisenerzgruben sowie 38 metallurgische Betriebe. Eine Zählung der Bergbauindustrie ergab, dass die fünf größten belgischen Bergbau-Unternehmen mehr als 22 000 Bergleute beschäftigten. Belgische Metallurgen machten den Donbass zum Zentrum der Schwerindustrie in Russland. Dabei waren auch Luxemburger mit von der Partie.
Als erster Luxemburger war der Echternacher Ingenieur Hubert Loser (1874-1951) ab 1899 in Luhansk in der Ukraine tätig.3 Er wurde Direktor der Fonderie de Lougansk, einer Gesellschaft des „Crédit Générale Liégois“ und der Hochöfen von Rümelingen. Auch Jean-Nicolas Rausch aus Aspelt 4, war in Uspensk bei Luhansk beschäftigt. In der Nähe von Donezk überwachte Léon Brasseur den Bau und die Instandsetzung des Eisenwerks Taretzkoje in Druschkovo und Ernest Servais (1866-1935) arbeitete als Ingenieur beim Hüttenwerk in Enakievo. In Mariupol war der Luxemburger Eugène Pellering (1870-1939) als Geschäftsführer eingesetzt. Auch die Luxemburger Maurice Godchaux (1873-1935) und Mathias Olinger (1866-1924) waren Direktoren von Stahlwerken in der Ukraine.5 Der Stadtluxemburger Albert Becker (1870-1920) der seit dem 1. März 1904 in Russland für die belgische Petroliumfirma Akhwerdoff in Grosny tätig war,6 starb am 14. September 1920 in einem bolschewistischen Gefängnis im Kaukasus während den Wirren des russischen Bürgerkriegs; er wollte das Unternehmen auch in schwierigen Zeiten nicht verlassen. Auch die starke Einwanderung aus dem untergegangen russischen Zarenreich nach Luxemburg, wo nach 1922 in Mertert und Wiltz zwei russisch-kosakische Einwandererkolonien entstanden, hatte nach den Forschungen der Historikern Inna Ganschow mit der starken Präsenz Luxemburger Pioniere seit 1890 in den russischen Kosakenregionen zu tun.
Die belgische Präsenz im Donezbecken war in erster Linie ein wirtschaftliches Phänomen, hatte aber auch tiefgreifende Auswirkungen auf die soziale und kulturelle Entwicklung. Vor 1870 waren die Steppen der Ostukraine fast menschenleer. Allein zwischen 1890 und 1900 verdreifachte sich die Bevölkerung von Dnipro, die von Yuzovka (Donezk) verfünffachte sich. Um die Betriebe herum entstanden Arbeiterdörfer mit Schulen, Kirchen und Krankenhäusern. In Makeevka und Enakievo im Donbass und Odessa entstanden frankophone Pfarreien für die zumeist belgischen Arbeiter.7 Für belgische Ingenieure und Meister bauten die Unternehmen separate Dörfer mit großen Häusern im „belgischen Stil“, mit dem dazugehörigen Luxus. Aus dieser strikten Trennung zwischen russischen Arbeitern und belgischen Managern resultierten die zukünftigen sozialen Konflikte, die in die Oktoberrevolution mündeten. Als die russische Regierung sich 1900 gezwungen sah, die Stahlbestellungen auszusetzen, wurde der russische Traum der belgischen Investoren zu einem Albtraum. Die riesigen, gerade fertiggestellten Anlagen waren auf einmal nutzlos, die Preise für Stahl, Roheisen und Kohle fielen drastisch, die Aktienkurse teilweise um 90 Prozent. Russland geriet in eine lange soziale und politische Krise bis zur Oktoberrevolution. Mehrere belgische Unternehmen gingen in Konkurs oder wurden von der Konkurrenz übernommen.
Die sozialen Beziehungen zwischen einer unzufriedenen russischen Arbeiterklasse und isolierten ausländischen Managern verschlechterten sich immer weiter. Der Erste Weltkrieg und die bolschewistische Revolution im Jahr 1917 beendeten die belgische Präsenz im Donezk, hinterließen aber ein industrielles Erbe, das bis jetzt noch immer sichtbar ist, aber immer mehr heute von russischen Truppen zerstört wird, vor allem in der Stadt Lyssytschansk, wo 1786 das erste Bergwerk der Region entstand und die belgische Präsenz besonders stark war. Wegen den großen Verlusten seiner Unternehmer kannte Belgien das sowjetische Regime erst 1935 offiziell an, als eines der letzten europäischen Länder.