Schuldenkrise

Euroland ist ausgebrannt

d'Lëtzebuerger Land vom 22.07.2011

In der bisherigen Analyse der Krise der Eurozone wurde des öfteren auf die vermeintlich unseriöse Haushaltsführung in den südeuropäischen „Euro-Krisenländern“ verwiesen. Diese Analyse geht jedoch zum großen Teil am Thema vorbei, denn Länder wie Spanien oder Irland hatten vor der Krise niedrige Haushaltsdefizite. Demnach sind auch die brutalen Sparprogramme die falsche Medizin.

Für die Krise der Eurozone sind die großen Leistungsbilanzungleichgewichte innerhalb der Währungs[-]union vielentscheidender. Für diese Ungleichgewichte sind aber nicht nur Länder mit Leistungsbilansdefiziten verantwortlich, sondern auch und gerade Länder mit hohen Überschüssen. Um diese Ungleichgewichte abzubauen, bedarf es aktiver Struktur- und Regionalpolitik, die wettbewerbsschwächere Länder bewusst unterstützt. Daneben müssen eine Vielzahl von konkreten Schritten zur Eindämmung der Finanzspekulation und zur Überwindung der akuten Krise unternommen werden, so zum Beispiel einen Ausbau des europäischen Rettungsschirms, die Einführung von Eurobonds, die Mithaftung der Gläubiger bei staatlicher Überschuldung und eine Harmonisierung der Steuerpolitik auf hohem Niveau.

Als Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise sind die Haushaltsdefizite in allen Euroländern deutlich gestiegen. 2010 lag kein einziges Land mehr unter der „magischen“ Schuldengrenze des Stabilitäts- und Wachstumspaktes von drei Prozent.

Hinzu kommt, dass die Finanzmärkte immer mehr „Defizitsündern“ das Vertrauen entziehen und diese ihre Anleihen nicht mehr oder nur noch mit drastischen Risikozuschlägen unterbringen können.

Seit einige Länder an den Rand der Zahlungsunfähigkeit geraten sind, hat sich die Schuldenkrise in eine bestandsgefährdende Krise der europäischen Währungsunion verwan[-]delt. Die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank (EZB) und die nationalen Regierungen reagierten darauf mit einer Reihe von Notoperationen, mit denen die Kreditversorgung der Krisenländer zunächst einmal bis 2013 sichergestellt wurde. Zugleich fordert die EU-Kommission eine drastische Sparpolitik zur raschen Sanierung der Staatshaushalte. Vor diesem Hintergrund haben sämtliche Länder des Euroraums im Januar 2011 Stabilitäts- und Konvergenzprogramme vorgelegt, in denen sie sich verpflichten, ihre Haushaltsdefizite bis spätestens 2013 wieder unter drei Prozent zu drücken. Auch in den darauf folgenden Jahren soll die Sparpolitik nahezu unvermindert fortgesetzt werden, um das eigentliche Defizitziel des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zu erreichen. Demnach sollen die überzyklischen Haushaltsdefizite auf nahe Null gesenkt werden. Die EU-Kommission geht demnach davon aus, dass sich Haushaltsdefizite in kürzester Zeit und in beliebigem Umfang verringern lassen, ohne dadurch das Wachstum zu schädigen und die Arbeitslosigkeit massiv in die Höhe zu treiben. Dazu passt, dass die EU-Kommission von einem ab 2011 soliden und dauerhaften Wirtschaftswachstum im Euroraum ausgeht.

Tatsächlich aber wird eine haushaltspolitische Rosskur zu einem dramatischen Einbruch der effektiven Nachfrage führen und damit die Arbeitslosigkeit weiter in die Höhe treiben. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass die Haushaltskonsolidierungen praktisch ausschließlich durch Ausgabenkürzungen und eine Anhebung der Verbrauchersteuern erreicht werden soll, während Unternehmen, hohe Einkommen und Vermögen fast vollständig verschont bleiben. Spätestens dadurch führt sich diese Art von Sparpolitik selbst ad absurdum: Die von der EU-Kommission geforderte Politik droht ganze Volkswirtschaften zu ruinieren, ohne dem Abbau der Haushaltsdefizite in nennenswertem Umfang näherzukommen.

Eine auf die Konsolidierung der Staatsfinanzen allein ausgerichtete Politik geht eindeutig am eigentlichen Problem vorbei. Was den Euroraum in die Krise gestürzt hat, sind nicht zu hohe Haushaltsdefizite, sondern die hohen und dauerhaften Leistungsbilanzdefizite einiger seiner Mitglieder und die daraus resultierende immer weiter steigende Auslandsverschuldung.

Obenstehende Tabelle zeigt, dass alle Länder, die im Hinblick auf die Refinanzierung ihrer Staatsverschuldung in ernsthafte Schwierigkeiten geraten sind, beziehungsweise werden, eines gemeinsam haben: Sie weisen seit Jahren hohe Leistungsbilanzdefizite und eine steigende Auslandsverschuldung auf. Da andererseits der Euroraum als Ganzes seit Jahren eine in etwa ausgeglichene Leistungsbilanz aufweist, stehen diese Defizite in direktem Zusammenhang mit den hohen Leistungsbilanzüberschüssen und damit auch mit den Auslandsguthaben anderer Länder der Eurozone wie etwa Luxemburg, Finnland, Österreich, die Niederlande und Deutschland.

Die Tatsache, dass sich die Leistungsbilanzsalden der Euroländer seit Einführung der Europäischen Währungsunion (EWU) derart auseinanderentwickeln konnten, verweist dabei auf einen gravierenden Konstruktionsfehler der EWU. Die fehlende Möglichkeit, auf eine unterschiedliche Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Volkswirtschaften durch eine Korrektur der Wechselkurse zu reagieren, hätte unbedingt durch eine Abstimmung der Lohnpolitiken aller Mitgliedsländer kompensiert werden müssen. Eine abgestimmte Lohnpolitik hätte einige grundlegende Vorteile gehabt:

1 die preisliche Wettbewerbsfähigkeit aller Volkswirtschaften wäre konstant geblieben;

2 eine solche Lohnpolitik hätte einer Senkung der Lohnquote entgegengewirkt und wäre demnach eine wichtige Voraussetzung für ein in allen Ländern ausgewogenes Wachstum gewesen.

Dass diese Entwicklung der stetig steigenden außenwirtschaftlichen Ungleichgewichten nicht nachhaltig sein konnte, hat die Wirtschaftskrise und die darauffolgende Eurokrise allen vor Augen geführt. Seitdem ist der Traum, die Defizitländer könnten sich praktisch ohne Risikoaufschlag immer weiter verschulden, um damit immer höhere Importe zu finanzieren, endgültig geplatzt.Kurzfristig kann man ihre Zahlungsschwierigkeiten zwar durch Notfall- und Rettungsfonds überbrücken, aber mittel- und langfristig müssen die Weichen dafür gestellt werden, dass die Defizitländer ihre Leistungsbilanz dauerhaft und nachhaltig verbessern können. Dies bedeutet jedoch umgekehrt, dass sich die Überschussländer von ihrer neomerkantilistischen Wachstumsstrategie zugunsten einer auf die Expansion des Binnenmarktes setzenden Entwicklung abwenden müssen.

Die EU-Kommission hat das Problem großer außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte mittlerweile zwar erkannt und Vorschläge unterbreitet, wie sie zu beheben sind. Allerdings werden weiterhin moderate Lohnabschlüsse in allen Ländern getreu der neoliberalen Doktrin als unverzichtbar betrachtet, um Wachstum und Beschäfftigung in den nächsten Jahren anzukurbeln. Auch von einer expansiven Finanzpolitik in den Überschussländern ist angesichts des bedingungslosen Festhaltens an den Defizitzielen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht die Rede. Der Abbau der Ungleichgewichte wird damit de facto ausschließlich den Defizitländern aufgebürdet. Eine relative Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit der Defizitländer ist somit nur durch drastische Real- oder sogar Nominallohnsenkungen möglich, was, wie in Griechenland geschehen, zu fatalen Konsequenzen führen wird: die Binnennachfrage bricht ein, das Sozialprodukt geht real und nominal zurück, der Realzins und die Staatsschuldenquote steigen in aberwitzige Höhen.

Um einen Zusammenbruch des Europäischen Währungsunion zu verhindern, muss der Stabilitäts- und Wachstumspakt durch einen Eurorettungspakt abgelöst werden. Die im Stabilitäts- und Wachstumspakt definierten Defizitziele entbehren jeglicher wissenschaftlicher Begründung. Sie bedeuten einen Rückfall in vorkeynesianisches Denken, da sie die wichtige Funktion der öffentlichen Kreditaufnahme, Überschüsse des privaten Sektors zu absorbieren, und somit in den Wirtschaftskreislauf zurückzuschleusen, völlig ignorieren. Solange der private Finanzierungsüberschuss so hoch ist, kann eine Verringerung der Budgetdefizite der Staaten ohne massive Schädigung von Wachstum und Beschäftigung nicht gelingen.

Ein Eurorettungspakt sollte dazu beitragen, die beiden Grundprobleme des Euroraums zu lösen:

– einerseits, das Problem stark gestiegener und steigender Arbeitslosigkeit

– und andererseits das Problem hoher außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte und für die Defizitländer nicht tragbarer Leistungsbilanzsalden.

Diese Probleme können nur gelöst werden, wenn die Wirtschaftspolitiken aller Mitgliedsländer der Eurozone in kooperativer Weise aufeinander abgestimmt werden. Anders als in den Konzepten der EU-Kommission, die praktisch ausschließlich die Defizitländer in die Pflicht nehmen, müssen dabei vor allem die Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen Verantwortung für das gemeinsame Projekt Europa übernehmen.

Der Eurorettungspakt müsste auf folgende vier Elemente aufgebaut sein:

• Die Überschussländer müssen sich im Bereich der Lohnpolitik dazu verpflichten, ihre bisherige Politik der Lohnmoderation zugunsten einer expansiveren Lohnentwicklung aufzugeben.

• Die Überschussländer sollen ihren Handlungsspielraum zugunsten einer expansiven Finanzpolitik nutzen.

• Den Defizitländern muss, im Rahmen der europäischen Regio[-]nalpolitik, unter die Arme gegriffen werden.

• Durch ein zusätzliches Programm soll sichergestellt werden, dass alle Länder des Euroraums ihre öffentliche Verschuldung künftig zu günstigen Bedingungen refinanzieren können.

Letzgenanntes, zusätzliches Programm, müsste, zusammengefasst, über folgende Punkte entscheiden:

• Der Euro-Rettungsschirm muss ausgebaut werden.

• Eurobonds sind zur finanziellen Stabilisierung notwendig.

• Es muss zu einem Schuldenschnitt durch Gläubigerbeteiligung kommen.

• EZB-Anleihekäufe müssen fortgesetzt und ein demokratisch legitimierter Europäischer Währungsfonds (EWF) muss konstitutiert werden.

• Die Schrumpfpolitik muss durch eine Politik des qualitativen Wirtschaftswachstums ersetzt werden.

• Es muss zu einer Harmonisierung europäischer Unternehmenssteuern und zu mehr öffentlichen Einnahmen kommen.

• Eine europäisch ausgerichtete Wirtschaftsregierung muss etabliert werden.

Eine Detaillierung dieser Punkte würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, es ist jedoch klar, dass der Prozess, die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte im Euroraum wieder auf ein nachhaltiges Maß zu reduzieren, viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Die Fehlentwicklungen im Euroraum haben sich seit der gemeinsamen Währung über ein Jahrzehnt lang aufgebaut, und es wird mindestens ein weiteres Jahrzehnt dauern, bis sie wieder korrigiert sind. Bis dahin werden sich die Länder mit heute sehr hohen und nur langsam schrumpfenden Haushalts- und Leistungsbilanzdefiziten nicht oder nur mit einem hohen Risikozuschlag auf den Finanzmärkten refinanzieren können.

Es geht also um einen mutigen Befreiungsschlag, bei dem die ohnehin durch die Krise ins Wanken gebrachten Tabus des Maastrichter Vertrags nicht mehr berücksichtigt werden können. Außerdem sollte auch klar sein, dass all diese Maßnahmen noch nicht die originäre Krisenursache bekämpfen. Dazu müsste vor allem die Umverteilung von unten nach oben beendet werden. Ansonsten wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis es zu neuen heftigen Krisen kommt.

 

Arturgt
Jim Schumann
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